Wolfgang Neisser

Collposing Art

Keep the customer satisfied oder wie es euch gefällt

London´s calling. Wenn Mensch über Düsseldorf nach London gelangen will und wenn Mensch aus Köln kommt, stehen ihm mehrere Möglichkeiten offen, den DUS(sel) Flughafen zu erreichen. Entweder fährt Mensch mit Personenkraftwagen oder auch Verbrenner genannt und sucht nach seiner Ankunft auf dem weitläufigen Flughafengelände mit all den seelenlosen Parkhäusern und den überfüllten Open Air Parkplätzen, solange, bis er fluchend ins Lenkrad beisst oder auf gibt und lässt sich für sein Gefährt das Portemonnaie fleddern.

weiter lesen

Frei flottierende Samstagsgedanken zwischen Fliegen und dem polnischen Supermarkt MLECZKO

Nur Fliegen ist schöner, hieß es vor fast fünfzig Jahren, als die Werbestrategen von Opel ihren schnittigen Sportwagen GT nach dem Vorbild von Porsche, Mustang, Alfa Romeo Spider und ein wenig Ford Capri für den Markt der deutschen Autonarren konstruierten, der mit viel windschnittiger Eleganz und reichlich Motortuning so gar nicht Deutsch einherkam. Wer einmal vor vielen Jahren in dieser Haifischflunder gesessen hat, dachte wirklich, dass er bei Tempo 180 und mehr schon über den Wolken schweben würde.

weiter lesen

Mind the gap between Calais and Dover before leaving Europe

Denkt Mensch sich die alles überragenden Hochhäuser, Skyscraper oder seltsame Architekturphantasien rund um die Kathedrale einfach weg, versteht Mensch, dass diese Kuppel allen, die vor 250 Jahren in London lebten und denjenigen, die London besuchten immer wie ein Wunderwerk der Baukunst vorgekommen sein muss.

weiter lesen

Zugfahrt mit Hindernissen und einer Spinalkanalstenose, die ich mir lieber erspart hätte

 

Nachts heimgekommen, nach fünfzehn Stunden Zugfahrt mit dreimaligen Umsteigen in überfüllten Abteils, in der Nacht davor kaum geschlafen, physisch wie psychisch zu nichts mehr fähig, selbst das Fernsehprogramm bringt mich in meiner Überspannung runter und in meinem Hirn scheinen alle Gedanken und Eindrücke, Ärger und  Enttäuschungen wie nach einem wilden Mix durcheinander geschüttelt zu sein. 

Es ist noch dunkel. Ich bin aber schon lange wach oder wahrscheinlich halbschläfrig und fühle mich wie gelähmt. Deshalb warte ich noch, weil mir alle Gelenke, Muskeln und Extremitäten schmerzen, weil mein Kopf schwer auf den Schulter hängt und die Lust, aufzustehen ist gleich Null. Wie auch, wenn das Bett mich so schön kuschelig umarmt und die Nacht noch viel zu dunkel ist, um durch die Aussicht auf den heraufsteigenden Tag mit seiner Farblosigkeit mehr abgeschreckt zu werden als freudig zu sein. Mir ist nach Abtauchen.

    

Ich lasse die Beine aus dem Bett fallen und stehe auf, gehe schwankend und sehr wacklig ins Badezimmer, steige mühsam unter starken Schmerzen in den Oberschenkeln über die Badewannenmauer, stelle mich unter die Dusche, kalt, immer kalt, denn das kalte Wasser bringt die Lebensgeister zurück. Ich wasche meine Haare, gründlich, (die Beatles haben es mit kaltem Wasser und Kernseife in Hamburg gemacht) weil ich immer einen Bad-Hair-Day fürchte, was nichts anderes bedeutet, als dass ich mein Gesicht mit einer entgleisten Frisur nicht im Spiegel sehen will. Ich klettere mühsam über die Badewannenbrüstung wieder zurück auf den festen Boden, weil ich weiß, dass jederzeit die Gefahr besteht, auszurutschen und auf den Fliesenboden zu knallen. Dann könnte ich den Tag oder vielleicht noch viel mehr Aufwiedersehen sagen. 

Heute, da ich ohnehin körperlich geschwächt bin, denn in den letzten vierundzwanzig Stunden quetschte ich mich 15 Stunden lang in vollgestopfte Zugabteile und verspüre während der Fahrt am gesamten Körper bis auf meinen Kopf Schmerzen. Die Fahrt war eine Wiederholung einer noch übleren Bahnfahrt eine Woche zuvor, bei der ich an die äußerste Grenze meiner Frustrationsschwelle und körperlichen Zumutungsbelastung vorbeischrappte. Wer sich heute traut oder das Wagnis eingeht, mit der Deutschen Bahn zu fahren, sollte vorher eine gute Versicherung gegen Zugausfall, Verspätung, Psychostress und Verlust wichtiger Reiseutensilien abschließen, die jede Beeinträchtigung körperlicher Unversehrtheit und traumatischer Belastungsstörungen einschließt. Ich nehme das an der Tür hängende große Badehandtuch und beginne mich abzutrocknen. Zuerst immer die Haare, die ich immer richtig trocken rubbele, um die paar Ziepen, die mir noch geblieben sind, zu erhalten. Auf meiner Kopfhaut sprießt nicht mehr viel, als nächstes trockne ich den Oberkörper und die Arme ab, weil in mir schon ein leichtes Frösteln hochkriecht. Ist der Oberkörper einigermaßen trocken, schaue ich runter auf meine Beine, weil die ganz besonders trocken sein müssen, ansonsten bekomme ich die Socken nicht über die Fußhaut und das endet immer mit Wut und Schimpftiraden auf das verdammte Phänomen, dass nasse Haut und trockene Baumwollsocken nicht kompatibel sind. Ich schaue nach untern, hefte meinen Blick auf die Unterschenkel, richte mich auf, schaue erneut in tieferer Neigung des Oberkörpers wieder nach unten und kann nicht glauben, was ich sehe oder vermeintlich wahrnehme. 

Das, was ich sehe, kann in keiner Weise der Wirklichkeit entsprechen, das, was ich sehe, gehört mir nicht zu mir. Was zur Hölle ist da unten los, Ich habe keine Waden mehr. Meine Waden sind über Nacht verschwunden, geschmolzen, zusammengesackt oder ausgetrocknet. Ich finde überlege, lasse die letzten Stunden des vergangenen Tages an mir vorüberziehen und erhalte keine Antwort.

Mein nach unten gesenkter Blick, taste sicht von den Zehen bis zu den Knien hoch und immer höher und als ich die Gesamtheit meiner Beine in voller Länge sehe, traue ich meinen Augen nicht, die auch als Teil meines Körpers diese Anblick nicht aushalten. Wer so etwas noch nicht erlebt hat, sollte bedenken, dass ein derartig unglaublicher Anblick blitzschnell ins Gehirn fliegt, wo sich die Bilder in einer millionsten Sekunde zu einem Schreckensszenario zusammensetzen und das Gesehene eindeutig als Deminuierung meines Körpers verifizieren. Spontanpathologische Veränderungen sollen selten sein, aber an diesem Morgen gibt es keinen Zweifel, dass der Verlust meiner Beinmuskulatur evident ist. Ich bin sprachlos. Ehe ich wieder zu mir komme, vergehen einige Minuten und der Schrecken kriecht in sämtliche Zellen. Im nachhinein, den Moment dieser Entdeckung Revue passierend, fehlt mir die Erinnerung, ob ich mehr geschockt als erstaunt oder verwundert war. Ich konnte diesen Verlust nicht verstehen und verstehe es immer noch nicht und kann noch weniger glauben, dass so etwas Ungeheuerliches überhaupt während einer einzigen Nacht geschehen kann. 

Ich reibe mir die Augen, schaue auf die neutrale Wand  gegenüber, richte den Blick wieder nach unten und tatsächlich hatte sich nach den kurzen Augenblicken nichts geändert, die Beine boten ein erbärmliches Bild meiner dünn gewordenen Unterschenkel. In wie weit die Oberschenkel betroffen waren, vermag ich nicht zu beurteilen und nackt vor einem Spiegel zu posieren, war nicht mein Ding.  Bin ich einer subjektiven Täuschungsfalle aufgesessen, ausgelöst durch meine Strapazen der vergangenen Woche oder ist es lediglich ein hinterlistiges Trugbild, das mich narren soll und nur in meinem Hirn existiert; eine Badezimmer-Fata-Morgana sozusagen? 

Ich kann meinen Blick nicht von meinen unteren Extremitäten lösen, vergleiche die Proportionen von einem Bein zum anderen und versuche mich zu erinnern, wie diese Unterschenkel vor der Reise ausgesehen haben mögen. Vor meinem inneren Auge sehe ich nur meine ausgeprägten Waden der Vergangenheit, die ich in über siebzig Jahren mit hunderten Kilometern Laufen und Gehen, Kniebeugen, Bergwandern und Baumklettern redlich und mühsam zu einer strammen Muskelsäule geformt habe. Bilder von Unterernährten tauchen auf, die grauenhaften Filme über die Befreiung der KZ`s durch die Alliierten, weitläufige Felder, auf denen tausende dünne Beinchen wie Maisstiele nach oben wachsen, tanzende Spaghettis und einsame Spargel, die hin und wieder aus dem Asphalt der Straße sprießen. Verwirrt und noch mehr noch entsetzt, taste ich wieder und wieder meine Beine ab. Ich suche in meinem Hirnarchiv nach irgendwelchen realen Fotos, die eine wahrhaftig Kraft meiner Waden zeigen könnten. Als Langhosenträger existieren keine Bilder meiner Beine und ich habe es soweit wie möglich vermieden, in einer hosenlosen Situation der Shorts fotografiert zu
werden. 

Ich lösche alle Lichter und mache sie wieder an, gehe zum  großen Spiegel im Flur und bleibe wie angewurzelt stehen, weil das, was ich sehe, nicht Ich sein kann. Das Spiegelbild des Menschen, den ich dort sehe, scheint mir sehr ähnlich zu sein und wenn die physikalischen Gesetzen stimmen. Spiegel lügen nicht, sondern verwechseln nur die Seiten. Ich stehe als Abbild meinerselbst Im Flur, und sehe ein umgekehrtes Ich. Sigmund Freud fand heraus, dass der Mensch diejenigen mehr hasst und fürchtet, die ihm ähnlich sehen und nicht diejenigen, die ihm fremdartig vorkommen und seinen normativen Vorstellungen nicht entsprechen. Wie ist das zu verstehen, wenn mein Spiegelbild zwar ein mir ähnliches Ich zeigt, das mir aber in meiner Erinnerung irgendwie fremd vorkommt. Wie ich so an mir herunterschaue, mich drehe, mich in Positur stelle und mit Brust raus Bauch rein darstelle, muss ich es sein, da bestand kein Zweifel. Aus meinem pragmatischen Überlegungen bekomme ich einen Schubs, der mir das fatale Eingeständnis abtrotzt, dass ich oder zumindest meine Beine und vor allem meine Unterschenkel nicht mehr die gleichen sind wie sie noch vor einigen Tagen aussahen, als ich morgens in der Dusche stand und mich anschließend ohne größere Beschwerden überall hin bewegen konnte. 

In den ersten Tagen nach meiner Rückkehr habe ich permanent am macbook gesessen und die Odyssee unserer Fahrt nach Südfrankreich dezidiert nachvollzogen und anschließend protokolliert, um bei allen Zweiflern beweiskräftige Argumente später in den Ring werfen zu können, die den Gegner, welcher es würde sein können, war mir noch nicht umfänglich klar. Wahrscheinlich werden es bei Versicherungen angestellte Rechtsanwälte sein, die mich unter Umständen mit Paragrafengrobheit in die Ecke zu drängen versuchten. 

Außer den lästigen, seit Jahren immer wiederkehrenden Rückenschmerzen, meinte ich, mich in letzter Zeit ziemlich gut gefühlt zu habent, auch wenn ich mir in einer späteren Rückschau eingestehen musste, dass dermaßen harmonisch nicht abgelaufen sein konnte. Dazu aber mehr später. 

Obwohl ich es wegen meiner Rückenprobleme vermied, mit den anderen Petanque zu spielen, um noch größere Malaisen zwischen den Wirbelkörpern und dem Spinalkanal prophylaktisch zu vermeiden, blieb der Schmerz und eine gewisse sich anschleichende Immobilität. Aber ich täusche mich nicht und auch keinen anderen, wenn ich im Nachhinein zugeben muss, dass das Nichtspielen sich wie ein Stich in meinem Herzen anfühlte. Machte ich mir was vor, als ich immerzu daran dachte, dass ein richtig spannendes Match nicht besonders förderlich für meinen Bewegungsapparat war und es in jeder Hinsicht vernünftiger sein könnte, nach einem derartig kämpferischen Spiel vielleicht überhaupt nicht mehr würde spielen können. Ich spreche aus Erfahrung, die mich Jahre zuvor für längere Zeit zu einem unfähigen Krüppel machen wollten, das geht aber keinen etwas an.

Es ist durchaus vorstellbar, dass der Mensch in der Routine seiner morgendlichen Alltäglichkeit den Blick auf die immer gleiche und wiederkehrende Wirklichkeit verliert, weil das Gehirn einer Abfolge geistiger Erinnerungsbilder gespeicherter Perpetuierungen folgt, die ob er will oder nicht, sein gesamtes Leben beeinflussen können. Vernachlässigt er den prüfenden Blick auf die Komplexität der Gesamtheit aller Dinge, die in seiner Umwelt existieren, ist ihm auch nicht geholfen. Er wird leichtsinnig  und vergisst viel zu schnell, besser sein Verhalten aufzupassen und immer wieder genauer hinzuschauen. Weder habe ich eine Neigung, narzisstisch zu sein, noch folge ich ernsthaft der Meinung, dass sich über die wenigen Nachtstunden etwas geändert haben könnte, was aber aus allgemeiner medizinischer Forschung und Einsicht relativ unmöglich ist.

Es ist immer noch dämmrig und ich habe nicht vor, nass, frierend und zitternd herumzulaufen und mir möglicherweise eine Erkältung einzufangen. Außerdem was hilft es mir, wenn ich herumtanze und mich  mich immer wieder von oben bis unten voller Schrecken mustere, jedes Körperdetail genau inspiziere, um trotz allem sagen zu können, wie schön der größte Teil dieses Alabasterkörper immer noch ist. Dem Bildnis des Dorian Gray nachzueifern, ist nicht meine Sache und hat auch keinen Zweck, wenn man weiß, dass ein gewisses Übergewicht oder eine adipöse Veranlagung nur bei bestimmten, eher schrägen Fotografen Idealvorstellungen auslösen.

Das Gehirn retuschiert im Verlangen nach Selbstbestätigung die ungeliebten Bauchfalten und Speckrollen und begibt sich so in seiner Eitelkeit in eine eingeübte Wahrnehmungsfalle mit einer wohlwollenden Forderung des Ego´s., sich einfach nur gut zu fühlen. Ich tappe durch den Flur und zeige meiner Frau, was ich sehe und nicht glauben kann, was ich als unmöglich erachte, was mich verstört und eine Lawine von Zweifeln auf mich herunterprasseln lässt. Meine Frau sieht mich an, zögert erst und bestätigt mir, dass sie auch der Meinung sei, dass die Unterschenkel viel dünner geworden seien und von den Waden kaum noch etwas zu sehen wäre.

Dann meldeten sich die Schmerzen, Schmerzen sind ein Euphemismus für diese Malträtierungen aus jeder Muskelfaser, aus allen verklebten Faszien und geschrumpften Sehnen. Jeder Schritt, jede Bewegung treibt einen nicht gekannten Schmerz vom Zentrum der Lendenwirbel in den restlichen Rücken und in die Beine. Meine Augen ertrinken in einem Meer von Tränen. Der fünfte Lendenwirbel, der operativ mit zwei Schrauben mit dem Sakralbeinknochen fest verankert ist, wird als Verursacher ausgemacht. Der Schmerz wandert von der rechten Knöchelseite zur linken hin und her, kreist durch meine Beine und landet direkt im großen Zeh, wo er in gleicher Geschwindigkeit wieder nach oben schießt. Als ich diesen Schmerzensfuror bemerke, stelle ich erschrocken fest, dass kaum meine Beinen kaum noch Kraft haben und jede Bewegung einer Messerstecherei in meinen Körper gleichkommt. Sämtliche Beinmuskeln sind ihrer Bestimmung beraubt, ich kann mich kaum aufrecht halten und es scheint fast unmöglich zu sein, meine Bewegungen miteinander zu koordinieren. Schmerzen im nachhinein in Worte zu fassen, überhaupt mit abstrakten Formulierungen jemanden anderen zu erklären, schafft keiner und können die Wirklichkeit weder durch eloquentestes Fabulieren noch mit einer sehr begabter Pantomime schauspielerisch und mit Fratzenschneiderei in seiner Intensität und Qual nachahmen. Allein das Beschreiben eines Schmerzes kann  niemals den Urzustand des Leidens erreichen. Wenn der Arzt sagt, jetzt kommt ein Pieks, wie will Mensch die Auswirkung einer derartigen  Handlung täuschend echt verbalisieren. Mein Schmerz entwickelte sich brutal quälend und überlagerte in mir jede andere Empfindung, dass ich schließlich in meiner Hilflosigkeit zu allem bereit gewesen wäre und zu den härteren Schmerzmitteln griff, die der Orthopäde mir präventiv verordnet hatte.

Was blieb mir anderes übrig als mich wieder hinzulegen, und alle Bewegungen zu reduzieren. Der Versuch in der Ruhe Kraft und Klarheit zu finden, erschien mir als adäquat, indem ich dem ganzen Körper in eine strikt verordnete Starrheit zwang. Ob es mich vor dem Schlimmsten bewahrte, auch wenn es mir sehr schwer fiel, kann ich nicht mehr sagen. Weh dem, der in den Bergen von einem Felsen herunterstürzt, weh dem, der mit Fahrrad gegen eine sich gerade öffnende Autotür knallt. 

Natürlich könnte sich Hinlegen, sich innerlich zu kontrollieren und Ruhe zu halten, das Optimum sein, aber aus den Erzählungen vieler Soldaten, die im Krieg mitten im Gefecht eine Amputation über sich ergehen lassen mussten, weiß ich sehr wohl, dass nur eine die Besinnung raubende Dosis Morphium einen Fall ins schwarze und schmerzlose Nichts erreicht. 

Selbst wenn ich ganz ruhig auf dem Rücken liege, kriechen die Schmerzen erneut vom Rücken in die Beine, setzen sich einer entfesselten Horde Termiten gleich in den Knien fest, nehmen das Schienbein mit Axthieben in Beschlag und geben mit perfidester Penetranz keine Ruhe oder eröffnen eine Feuerpause, die mein Körper gebrauchen könnte, um wenigstens für kurze Zeit in den Schlaf zu fallen. Ich drehe mich und wälze mich, rotiere in Zeitlupe mindestens dreimal in wenigen Minuten um mich selbst, ordne die Kissen neu, indem ich sie knuddele und  immer wieder umdrehe, um die kältere Seite zu erwischen. Ich klemme mir eines der kleineren Kissen zwischen die Beine, damit die Knie nicht aneinander reiben und warte darauf, dass die orthopädisch neurologische Schmerzbombe endlich Hilfe verschafft. Das ist es nicht mehr auszuhalten, das ist kein Leben mehr und zudem erzeugt die grausige Dunkelheit der Nacht, diese unheimliche, unmenschliche Stille einen Zorn in mir, so dass ich alles kaputt schlagen könnte. Zerstören, vernichten, sich auflösen, nicht mehr da zu sein. Man kann aber viel mehr aushalten als man glaubt, auch das wusste ich von älteren Männern, die mir erzählt hatten, wie sie einige Wochen in der Eiswüste von Stalingrad ausgehalten hatten. 

Der Ärztin in Cazouls, der ich meine Leiden in französischem Idiom näher beschrieben hatte, hörte während der gesamten Konsultation nur halb zu, schien auch die Dringlichkeit meiner schmerzhaften Erkrankung nicht wirklich zu verstehen und starrte mich nur mit leeren und ratlosen Augen an Nach einem Telefonat mit einem Experten für polyneurale Störungen, wie ich vermutete, verschrieb sie mir ein sehr starkes Schmerzmittel. Ein Anruf genügte und binnen fünf Minuten wurden die Medikamente direkt von der gegenüberliegenden Pharmazie vom Apotheker höchstpersönlich in die Praxis gebracht. Ich las die Beschreibung und wusste sehr schnell, dass ich dem Medikament wie bei fast allen Arzneien, wenn man sich die Mühe macht, die Waschzettel durchzulesen, nicht trauen konnte. Das gilt zumal bei Pillen, die man noch nicht einmal bei google verzeichnet sind. Die von mir aus dem Französischen übersetzten Nebenwirkungen reichten aus, um die Finger zunächst davon zu lassen, weil ich nicht wissen konnte, wie sich diese Erkrankung noch entwickeln würde. Stattdessen nahm ich das vom deutschen Orthopäden verschriebene Mittel, ein schwächeres Opioid, was ich schon einmal, ohne Nebenwirkungen festgestellt zu haben, ausprobiert hatte. Diese Substanz war gut verträglich und blieb bei der Ouvertüre ohne Nebenwirkungen, außer dass ich mich wie in einem wolkigen Nebel fühlte und mein Denken auf einen Sparmodus gezwungen wurde und mich allmählich ganz außerhalb der Besinnung setzte. Mit derartigen Mitteln im Blut fällt es schwer, Gedanken zu sortieren und eine sich in allen Zellen ausbreitende basale Müdigkeit tat ein übriges. Ich denke darüber nach, ob ich die Hinfahrt, das Verbleiben und die Rückfahrt kontextualisieren sollte, weil das in der nicht nur viele Bahnfahrer, sondern auch alle anderen Menschen, die im Clinch mit öffentlichen Institutionen liegen, interessieren dürfte. Aktuell treibt die allgemeine Medienlage viele Menschen um und weckt einige aus einem sehr langen Dornröschenschlaf. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass jedes Kontextualisieren und minutiöses Nachrecherchieren nur im verzweifelten Versuch enden konnte, sich lediglich die eigenen Versäumnisse, Falscheinschätzungen und Fehler schön zu reden. Viele würden vermuten, dass es irgendwo an anderen Stellen Gründe gegeben hat,  wo schon mit Wut gebuddelt wurde. Würde das für ein klägliches Schuldbewusstsein reichen, das mich in meiner ausweglosen Situation als Sündenbock schließlich zum Schlachtklotz führte. Es würde zumindest mein defätistisches Stimmungstief bestätigten.

Da ich nur kurze Strecken gehen konnte und stets mit Schmerzen geplagt wurde, war allein der Weg vom Schlafzimmer zum Fenster des Wohnraumes eine Kurzstrecke mit Marathoncharakter. Weil mir alles zuviel war, blieb ich im Bett liegen, was aber auch auf Dauer keine Lösung sein konnte. So wir uns bemühten, einen zeitnahem Termin bei einem Neurologen oder Neurochirurgen zu bekommen, wurden wir auf viel zu späte Termine vertröstet und der mich behandelnde Orthopäde befand sich im Urlaub. Der Hausarzt oder die Hausärztin wussten nicht viel zu dem Krankheitsbild zu sagen und stellen immer wieder Überweisungen aus. Mich in eine Klinik zu legen, kam noch nicht in Frage, obwohl ich tief im Innern ahnte, dass derartiges auf mich zukommen würde. Ich hing der Hoffnung an und vertrat die Meinung, dass sich dieses Leibesschlamassel früher oder später in Wohlgefallen auflösen müsste. In den Nächten lag ich meistens wach, die Schmerzen hinderten den Schlafschmeichlern, sich meiner zu bemächtigen. Tagsüber versuchte ich zu schlafen, allerdings nur dann, wenn mir freundlicher Insomniageist gnädig war. Im Internet las ich entgegen allen Ratschlägen vor allem Negatives und Niederschmetterndes. Die Lage in Nahost, das Haushaltsloch und der ukrainisch-russische Krieg wie den medial aufgebauschten Diskurs über die Auswirkungen des Israel-Palästina-Desasters. Unabhängige Blogs affirmierten all das, was ich mir über Jahre in meinen Nachforschungen über den Vertrag von Sevres, Lausanne und den unseligen Sykes-Picot-Plan zusammengetragen hatte. Bald wurden mir in den Tagen und Nächten die politische Weltlage gleichgültig. Ein Terrorist hätte neben meinem Bett stehen können und mich nach dem Weg zur amerikanischen Botschaft fragen können, ich hätte lediglich gelächelt und zur Tür gezeigt. Die Tage ertranken in der endlos erscheinenden Zeit und die Nächte zogen sich endlos dahin. Nachts schrieb ich ellenlange SMS mit meinem Freund Günther, der bis vor kurzem niedergelassener Arzt war und seit 58 Jahren ein sehr enger Freund. Wir gingen zusammen in die gleiche Schule, wo wir uns mehr schlecht als recht durchschlugen und blieben selbst nach unterschiedlichen und teilweise dramatischen Lebenswegen enge Freunde.

Seine diagnostische These, aus der Ferne erstellt, behauptete, dass oberhalb des fünften Lendenwirbels, also ein oder zwei Etagen höher irgendeine Bandscheibe verrutscht oder lädiert worden war, was mir angesichts der stundenlangen Bahnstrapazen verständlich erschien.

Am darauf folgenden Donnerstag fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass ich handeln würde müssen. Keinesfalls sollte das kommende Wochenende ohne ärztlichen Beistand oder ärztliche Untersuchung vorüberziehen. Vor mich hinzudämmern und keine Chance zu sehen, irgendeine Besserung zu verspüren, durfte keine Option sein.

Freitag Morgen fuhren wir beide ins Krankenhaus nach Köln Merheim, mit der Annahme, in der Neurologie oder Neurochirurgie relativ schnell drangenommen zu werden. Um neun Uhr standen wir vor der stationären und ambulanten Aufnahme. Nach Öffnen der Schwingtür, mussten wir einsehen, dass es wegen einer völlig überfüllten Notaufnahme keine Chance gab, zügig untersucht zu werden. Wir warteten zwei weitere Stunden und sie legten einen Venenzugang, um Blut abzuzapfen. Es vergingen zwei weitere Stunden bis uns eine Krankenschwester in ein Arztzimmer rief. Immerhin tauchte das Gefühl auf, mich einer möglichen Aufklärung meiner Beschwerden zu nähern, auch wenn wir wieder eine Stunde tatenlos vorbeizog. Um es kurz zu machen, es kam weniger dabei heraus, als ich erhofft hatte: der vollkommen überlastete Assistenzarzt bot mir zwei Alternativen an. Zum einem übers Wochenende in der Klinik zu bleiben, Montags ein MRT machen zu lassen und zwischendurch mit einer sogenannten Schmerztherapie permanent mit harten Schmerzmitteln versorgt zu werden, die durch den Plastikschlauch in meine Armbeuge tropften. Blieb ich da, würde ich über ein Wochenende mit BTM-Medikamenten vollgepumpt, ging ich heim, erwartete mich die Ungewissheit, keinen Facharzt anzurufen. Ging ich heim, wurde mir aufgetragen, ein MRT zu besorgen und ein paar Tage später am Montag zur Sprechstunde des Professor zu gehen, um seine Expertise im MRT zu hören. Würde er die möglichen Ursachen meines Gebrechens orten können und eine Behandlungsmethode entwickeln können? Freitag, Samstag und Sonntag von einer Infusion zur anderen zu taumeln und in einem trostlosen Zimmer zu liegen, erachtete ich schließlich als kontraproduktiv und so fuhren wir ohne neues Wissen wieder nach Hause. Der Arzt verschrieb mir Medikamente und nach sieben Stunden fuhr ich genauso dumm oder schlau wieder heim. Mir wurde klar, dass der Facharzt in Merheim keinen Plan hatte, wenn sich hinterher lesen würde, dass es sich möglicherweise um einen schweren Muskelkater handelte. Geht´s noch, ein Muskelkater, der mehr als eine Woche her war und inzwischen 12 Tage dauerte. Ich trage keinem etwas nach, die Notfallaufnahme war augenscheinlich nur auf wirklich sichtbare Schmerzen oder außergewöhnliche Veränderungen am menschlichen Körper zuständig. Als ich das Notfallzentrum verließ, kam mir ein Mann entgegen, der ein derangiertes Gesicht hatte, und aus Mund und Nase blutete. Halloween für Kranke etwas früher. Weiterhin galt die unumstößliche Devise, es muss endlich etwas passieren.

Ein Wochenende zuhause war immerhin meiner mentalen Stimmung zuträglich, zumal meine Frau alles machte, um meinen Zustand so angenehm wie möglich zu gestalten. Aushalten und ich sage mir immer wieder aushalten. Morgen aushalten und vielleicht auch besser aushalten, um dann wieder auf die Beine zu kommen, wenn es möglich war. In der Nacht von Sonntag auf Montag fiel mir mit Schrecken ein, dass es ein Vabanquespiel war, darauf zu setzen, schnell ein MRT zu bekommen. Wer macht von heute auf morgen ein MRT? Als Alternative gab es nur die Einweisung in die neurochirurgische Station des Professors, damit das  MRT im Krankenhaus geschah. Am anderen Morgen rief ich an, ich habe einen guten Draht zu einem weitverzweigten Medizinnetzwerk und hoffte, dass ich mit guter Rhetorik, so schnell wie möglich einen Termin zu bekäme. Kaum zu glauben, ich rückte für einen Patienten, der abgesagt hatte, schon am Dienstag in den Röhrentermin. Erleichterung erfüllte mich und es kam auch eine vorsichtige Euphorie auf. Trotzdem hing mir eine frostige Vorsicht im Nacken, weil es mir einerseits eben immer noch sehr schlecht ging und ich befürchtete, dass etwas weitaus Bösartigeres gefunden werden konnte. Aber wie beschreibt man das Adjektiv respektive Adverb „schlecht“ im Zusammenhang mit den menschlichen Eigenschaften und Gefühlen, gut und schlecht. Beides sind für mich allzu platte, schwarz-weiß Beurteilungen, die nichts aussagen. Wird ein Mensch zu seinem Gesundheitszustand befragt, sagen diese einfachen Zustandsbeschreibungen nichts aus und wird allgemein genutzt zu einer leeren Worthülse. Obwohl ich die Skalenbeurteilung auch als zu vereinfacht einschätze, kann ich meinen Schmerz immerhin mit 10 beziffern, um selbst dem begriffsstutzigsten Arzt zu signalisieren, dass ich meine Schmerzen kaum aushalte. Im medizinischen Sinn muss anerkannt werden, dass jeder Mensch, der sich weit außerhalb seiner vitalen Funktionen und Gefühlszustände befindet und die Fragen nach seiner Gesundheitsbeschreibungen nicht in der Lage ist, positive Parametern zu beschreiben, so befindet er sich eindeutig in einem schlechten Zustand und braucht dringend Hilfe. Die harmloseren Krankheits- wie Gesundheitszustände bewerten Patienten wie Ärzte graduell unterschiedlich, weil ein Schnupfen harmlos und lästig das Leben erschweren, weil die Nase dauernd läuft. Ein Kopfschmerz, der pochend das Hirn malträtiert kann es ein Aneurysma oder ein Schlaganfall sein, die den Betroffenen knapp an einem letalen Risiko vorbeigeschrammt lässt. Zweifelsohne wird dieser Zustand als dramatisch bewertet. Unerträgliche Schmerzen zu haben und kaum gehen zu können, ist ziemlich gefährlich und betrifft den gesamten Körper. Im Gegensatz dazu, ist Krebs, Herzinfarkt oder Nierenversagen dramatisch. Ein subjektiver Eindruck kann je nach Schmerztoleranz als harmlos oder gefährlich gelten, aber wenn sich eine Depression eingenistet hat, wird eine Bewertung schwer. Das sich selbst beobachtende Denken, das permanente in sich Hineinhorchen und eine Hoffnungslosigkeit, die nur Negatives, Angst und Suizidgefährdendes zu Tage bringt, erkennt selbst der Facharzt nicht auf Anhieb oder überhaupt nicht. Niemand sollte vergessen, dass eine Depression ebenso dramatisch und lebensbedrohlich wahrgenommen wird wie eine schwere Lungenentzündung oder ein Magendurchbruch.

Am Dienstag zählte ich Tag 11 seit meiner Rückkehr aus Beziers und endlich bekam ich einen Termin mit einer Radiologie, die das geforderte MRT aufzeichnen kann. Einigermaßen den Umständen geschuldet, fühlte ich mich fit, bemerke meinen Trugschluss aber schon nach fünfzig Metern, weil ich überhaupt nicht gut zu Fuß war. Der Rücken schmerzt, die Beine schleppe ich mit mir und mein ganzer Körper ist aus der Balance geraten. Ich taste mich langsam Fuß für Fuß vorwärts, immer darauf achtend, nicht irgendwie zu stolpern oder aus dem Gleichgewicht zu geraten. Meine Fußsohlen senden ein Gefühl ans Hirn, dass sie sich wie auf einen Teppich Tischtennisbällen vorwärts bewegen und ich befürchte, mit einem Rutsch und Knall auf dem Rücken zu landen. 

Ich schlage auf dem weitläufigen Gelände des Gebäudes die falsche Richtung ein und muss treppauf in eine andere Etage gehen, auf der die Untersuchung stattfinden soll. Nach der zweiten Treppe beginnen meine Lungen schon wieder zu pfeifen und meine Oberschenkel brennen. Ich bin platt, fertig, wie es im Volksmund heißt, wenn ein Mensch keine Energie mehr hat, weiterzugehen und sich körperlich am Limit fühlt. Es dauert wieder, nichts Neues, wie immer, und wie immer muss ich einen vierseitigen Fragebogen ausfüllen, was bei mir inzwischen für Routine und Ärger sorgt, weil die Praxen und die medizinischen Speicher immer noch nicht digitalisiert sind und die gleichen blödsinnigen Fragen beantwortet wissen wollen. Kaum habe ich meine inzwischen deutschlandweit bekannten Selbstzeugnisse abgegeben, tapse ich in Socken in Richtung MRT-Röhre und muss nicht lange warten, bis ich auf den Rücken liegend in die enge Röhre geschoben werde. Die Kopfhörer auf den Ohren nutzen nicht viel gegen die Kakofonie der fortgeschrittenen Medizinaltechnik, da ist den medizinischen Technoingenieuren noch nichts eingefallen. Die Trommelfellen würden eine sanfte Lautstärke mit unterlegter Beethoven Symphonien freudig entgegennehmen. Es quietscht, hackt, pocht und hämmert und die um mich herumkreisende Lautstärke strapaziert vor allem das Zentrum meines Hirns, das Wohlklänge zwischen Byrds und Mozart so liebt. Inzwischen ist es so laut geworden, dass ich bei engagierten Willen einige fetzige Heavy Metall Riff daraus zusammenschneiden könnte. In einer Passage hörte ich die eindeutige Aufforderung „Fahrrad fahren, Fahrrad fahren, Komm mit, Komm mit“, was mir relativ bizarr vorkam. Aber ich vertiefte mich stoisch und andächtig lauschend in den unvermeidlichen Geräuschangriff und versuchte aus den klanglichen Abstufungen dieser Zahnradmelodie das herauszufiltern, was unter Umständen als Ähnlichkeit mit meinen Favorites in Einklang zu bringen wären. Einige Male bin ich schon in so eine MRT-Röhre gesteckt worden, aber was neu war oder was ich als neu empfand, war eine ansteigende Wärme, die mir zum Ende meiner Magnetresonanzreise die Schweißperlen auf die Stirn trieben. Nach 20 Minuten war es vorbei und als ich dem Arzt die eigentümliche Wärmeempfindung berichte, antwortete die Durchleuchtungsassistentin, dass die Patientin vor mir gesagt habe, dass sie gefroren habe. Da werde einer schlau draus oder beweist es nur, dass Enge oder Eingesperrtsein von jedem Menschen anders wahrgenommen wird und im schlimmsten Fall zu Klaustrophobie und Panikattacken führt? Es soll auch Protagonisten geben, die an Lachanfällen ersticken oder durch Opernarien einen vielstimmigen Chor singen hören. 

Ich klettere von dem Schlitten des Elektronikungeheuers für die Spezialdiagnostik des Spinalkanals und werde entlassen .Ich zwänge mich in die Umkleidekabine und krieche mühsam in die engen Hosen und die drei Hemden, die ich wegen der Kälte vorsorglich angezogen habe und schlüpfe mit letzter Kraft in meine Schuhe. An der frischen Luft, das sich in einer Großstadt immer als freche Lüge entpuppt, denke ich, dass ich vielleicht nach Auswertung der in schnellster Rotation zusammengepuzzelten Bits und Bytes Genaueres über meinen Zustand erfahren werde. Ich hoffe, dass die Bilder nach der Begutachtung durch den Neurochirurgen einen Defekt am Spinalkanal zeigen. Das liegt noch vor mir und der Orthopäde möchte gerne die schemenhafte Darstellung meiner Hüftknochen in schwarz und weiß auf einem normalen Röntgenbild seinem unstillbaren Wissensdurst zur Prüfung vorlegen, um die Hypothese einer Hüftgelenkarthrose zu überprüfen. Nach meinem Wissensstand werden Abnutzungserscheinungen zu finden sein, aber deshalb werde mir keine erneute Skalpellorgie aufschwatzen lassen. Das MRT für die Neurochirurgen habe ich hinter mir und die Bilder werden an den Hausarzt geschickt, den ich aber für unfähig  und wenig empathisch halte. Vorsichtshalber lasse ich mir eine CD brennen, die ich mitnehme, um wenigstens einen Beweis bei meinen Unterlagen zu haben, wenn die Neurospezialisten in Merheim ihre Blicke darüber schweifen lassen Das MRT wird am Mittwoch in der Sprechstunde der neurochirurgischen Ambulanz von einem der Medizinerinnen dieser Abteilung erneut kontrolliert. 

Wir fahren wieder nach Merheim und wie das zu erwarten war, hieß es, sich in die Reihe der Wartenden einzureihen, obwohl ein fester Termin beschlossen wurde. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass Zeit für die einen eine geringere Rolle spielt als für einen anderen Patienten, wenn sie auf medizinische Hilfe oder Aufklärung hoffen. Einige sind geduldig, man sieht ihnen an, dass sie es gewohnt sind, sich in Geduld zu üben. Sie scheinen sich nichts aus einer längeren Wartezeit zu machen und bleiben stoisch sitzen, dagegen empfinden die Ungeduldigen die langsam verrinnenden Zeit als Folter und sehen so aus, als würden sie am liebsten sofort durch die Tür des Untersuchungszimmer springen, den Arzt an die Gurgel springen und das, was sie hören wollen, aus ihm oder ihr herausquetschen zu wollen. Diese Kandidaten rutschen auf ihren Stühlen hin und her, stehen hin und wieder auf, laufen umher und murmeln erzürnt vor sich hin. Innerlich kämpfen alle gegen die Ungeduld an und jeder versucht in seiner oder ihrer Art damit zurechtzukommen. 

Eine eigenartig dumpfe Vibration lag in der Luft, eine Spannung, die für einige nichts zu bedeuten scheinen,  während andere die Wartezeit bedeutungsvoll wahrnehmen. Allle müssen solange warten, bis die alles einteilende Sprechstundenhilfe den Namen aufruft und darum bittet, ins Zimmer des Arztes zu gehen. In meinem Fall geht es sehr schnell, und wir befinden uns im Zimmer einer Ärztin, die uns zunächst weder beachtet noch irgendetwas Verbales von sich gibt. Nach einer kurzen Anweisung ordnet sie befehlsmäßig an, dass wir Platz nehmen sollen. Ich nahm auf dem einzig freien Stuhl Platz und sogleich moniert die Dame, dass sie es nicht leiden könne, wenn sich jemand hinter ihrem Rücken befände. Ich stehe wieder auf und sie weist mich an, den Stuhl  neben sie zu schieben. Die mitgebrachten MRT-Bilder sind schon auf dem Monitor zu erkennen. Nach einer Weile legt die Ärztin abrupt los. Sie sehe bei beiden MRTs, die im Abstand von 10 Wochen aufgenommen wurden kaum Unterschiede und sie könne erkennen, dass es die Darstellung einer Spinalkanalstenose sei, die aber nach ihrem Bewertung nichts Gravierendes oder Besorgniserregendes zeigen würden, was beispielsweise eine weitere OP notwendig machen würde. Was redet sie von OP, ich bin nicht hergekommen, um durch ihre Fachkenntnis zu erfahren, was nicht notwendig ist, um endlich von meiner Pein befreit zu werden. Ich habe sie aufgesucht, um eine Antwort zu bekommen, wie ich mit diesen Schmerzen leben kann und welche Möglichkeit sie sehen würde. Heilung oder Schmerzlinderung zu erreichen. Sie zeigt mit einem Stift auf die Schrauben und die zusammengezurrten Wirbel LW5 und SW1 und fragt dann, was ich aktuell für Beschwerden habe und wie sich diese Schmerzen bemerkbar machen. Dann fordert sie mich auf, mit meinem Finger die Ausstrahlung des Schmerzes vom Lendenwirbelbereich bis zu den Zehen zu  simulieren. Ich fahre mit dem Finger entlang des linken Beines eine imaginäre Bahn, die über die Außenseite des Oberschenkels bis in die linke Kniehälfte und über das Schienbein in den großen Zeh verläuft. Sie schmunzelt und meint, dass diese Demonstration klassisch sei und für sie als Neurochirurgin weder als Überraschung wahrgenommen werde noch bei meinen Schmerzen verwunderlich sei. Die Linie zeige nur den Verlauf, wie die Aktivitäten des Ischiasnervs vom Rückgrat bis zu den Füßen mein Leben versaut. Auf meinen Einwand, der Hausarzt habe gemeint, dass er beim Durchlesen des Radiologenbefundes eindeutig schwere Veränderungen gefunden habe, blaffte sie lapidar zurück, dann könne bitteschön der Hausarzt die weitere Behandlung und eine mögliche Operation vornehmen. Baff. Das saß. Sie verhielt sich ihrer Wissensüberlegenheit bewusst, distanziert und antwortet auf meine Fragen schnippisch und kurz angebunden. Erst als ich von der fehlenden Muskelkraft in den Beinen und den permanenten Schmerzen berichtete und auch angab, dass ich immer noch sehr aktiv meinen Beruf ausübe und bis vor wenigen Wochen noch fit gewesen sei, fragte sie mich, ob ich noch beruflich tätig wäre und welchen Beruf ich ausübe. Meine Antwort, Fotograf und Künstler zu sein, schien ihr Interesse an meiner Person geweckt zu haben. Zunächst fragte sie danach, ob ich davon leben könne und als ich sie beruhigte sie, dass ich auch Rente bezöge, weil aber die Kunst eben zu meinem Leben gehöre, war ihre Neugierde vollends geweckt. Als Eva erzählte, dass wir jahrelang Kunst- und Kulturreisen arrangiert und geführt hätten, taute sie auf und interessiert sich plötzlich für uns. Frau Prof. Dr. C. C. schaltete ihren überheblichen Ton einen Gang runter und so näherten wir uns einem moderaten Zwiegespräch an. Tatsächlich fühlte es sich so an, als wäre man nach langer Zeit und langer Suche in einer möglichen Lösung näher gekommen. Nach kurzweiligen Geschwätz über Kultur und Kunst versuchte ich das Gespräch auf einen der wichtigesten Puzzlesteine zu lenken, um einer medizinischen Aufklärung näher zu kommen. Bei allem Verständnis für meinen Wunsch monierte sie, dass unbedingt ein CT neueren Datums angefertigt werden müsse, weil ohne dieses Bild eine bessere Begutachtung unmöglich sein würde. Sie nahm einen normalen Schreibblock und schrieb darauf die Daten, die einem endgültigen Urteil näher kommen würden. Eine Überweisung, auf ein Blatt Papier verwunderte mich, aber inzwischen hatte ich begriffen, dass hier alles etwas anders vor sich ging, als ich es gewohnt war. So wurden wir entlassen, ausgestattet mit dem Termin am folgenden Montag wiederzukommen, um ein finales Ergebnis vielleicht als Erlebnis feiern zu können. Nun war noch der Orthopäde zufrieden zu stellen, weil er der Meinung war, ein Röntgenbild von der Hüfte könne vielleicht Aufschluss seiner Theorie der Arthrose eines oder beider Hüftgelenke geben. 

Wir fuhren heim und waren zunächst besserer Hoffnung, dass es weiterzugehen schien und nur noch fünf Tage auszuhalten seien, bis vielleicht aus einer evidenten Ursache ein komplexer Behandlungsplan entstehen könnte. Die nächsten Tage entwickelten sich zu einer Horror-Picture-Show, da ich weder schlafen konnte, noch im Dahindämmern sah ich trotzdem die verrücktesten und aberwitzigsten Bilder durch meinen Schädel tanzen. Eine Abfolge schnell geschnittener Filmschnitzel von Kindheitstraumata über viele Umzugsfahrten durch Berlin bis zu den in den letzten Wochen im Fernsehen gesehenen Szenen zwischen Mafiakillern, Westernschusswechsel, Liebesszenen ohne Liebe, Friedhofverirrungen im nächtlichen Mondschein  und Kriegsszenen aus allen Kampfgetümmeln zwischen dem Donbass und den Tunneln unter dem Gazastreifen. Montag würde ich mehr wissen, redete ich mir ein. Bei der erneuten Visite in der Neurochirurgie würde ich positive Rückmeldungen bekommen. An dem selben Tag fuhr ich in ein Strahleninstitut und ließ mich erneut durchleuchten. Nach der obligatorischen Bürokratiekontrolle, die hauptsächlich den Abrechnungsgepflogenheiten der kassenärztlichen Gebührentabelle diente, damit die Honorarschlüssel genau eingehalten werdens. 

Montag Morgen war ich trotz meiner durch Medikamente beeinflussten Stimmung aufgeregt, weil ich der Meinung war, dass sich heute eine Entscheidung am blassen Horizont der Hoffnung abzeichnen könnte. Auf nach Merheim, auf zur Professora Graeca, die mir vielleicht einen Weg aus meinen Dilemmata würde zeigen können. Als wir ihr Ambulanzbüro betraten, kam als Erstes die aberwitzige Bemerkung; „Waren Sie schon einmal hier?“ Völlig konsterniert erinnert ich die Dame an den letzten Mittwoch und gleich darauf erfolgte ein Kampf mit ihrer Computertastatur, um das mitgebrachte Bild über den sogenannten QR-Code zu öffnen. Das misslang, weil zusätzlich noch ein Zahlen-Buchstaben-Code eingetippt werden musste, was sich als noch größeres Problem erwies. Anstatt die CT-Aufnahme über den Bildschirm ihrer Sekretärin zu übertragen, fummelte sie unverdrossen auf der Tastatur herum. Das gelang ihr nicht und sie versuchte es sich über ihr smartphone anzuschauen. Über das sehr kleine Display eines smartphones war bestimmt niemand in der Lage das sehr kryptische Bild meiner Wirbelsäule auch mit der Vergrößerungsfunktion zu deuten. Als sie endlich das Bild sehen konnte, wischte sie mit den Fingern auf der Screenschicht des smartphones hin und her, um dann völlig desinteressiert von sich zu geben, dass sie nichts besonderes sähe, was ihr Sorgen bereitete. Für sie schien war der Fall damit erledigt, zumindest verhielt sie sich so und auch ein durchaus zielführendes Verbalgeplänkel über die folgenden Empfehlungen für passende Medikamente führte zu nichts. Es gipfelte in sarkastischen Auslassungen über geschmolzene Waden, Sinn und Unsinn von Ibuprofen und Diclofenac bei Herzpatienten und dem Ratschlag, schwimmen zu gehen oder Rad zu fahren. Entgegen jeder Expertenmeinung lederte sie mein absolviertes  Krafttraining ab, weil es ihrer Meinung nach kontraproduktiv sei. Sie schien vergessen zu haben, dass ich in meinem Zustand weder Radfahren oder Schwimmen lebendig überstehen würde. Die griechische Medizin Kassandra erwies sich als schwadronierende Xantippe der Neurochirurgie, von der sie zumindest die Zusammenhänge zwischen Nerven und Muskeln zu verstehen vorgab. Ich würde sagen, dass der Besuch in Merheim ein Griff in ein hellenisches Klo der Unterklasse war. Für die nächste Zeit kam die Ärztin als verlässliches Orakel nicht mehr in Frage. Was aber konnte ich machen, solange die Ursache meiner Malaise immer noch im Verborgenen blieb und der Zustand meiner Wirbelsäule wie der unteren Extremitäten ein labyrinthisches Suchspiel ohne Aussicht auf ein Entkommen versprach. Ein innerer Furor brandete durch meine Nerven und Gehirnwindungen, konnte mich aber nicht aus meiner Ratlosigkeit befreien.  

Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren, die Welt und insbesondere das Griechentum zu verfluchen und darüber nachzudenken, was ich in Zukunft würde machen können. Selbst die per SMS zugesandten und wohl gemeinten Ratschläge meines persönlichen Medizinmannes versprachen keine Hoffnung für mein Leiden. Verzweiflung kroch tief in mein Inneres und ich geriet wieder in einen Heiligen Zorn, der noch mehr Bitterkeit und Endzeitstimmung hervorrief: „Da ist guter Rat teuer“., sagten früher die Alten und schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Ja, Gottverdammi, ich brauche vielleicht einen guten Rat, aber teuer muss er nicht sein. Zu Urgroßvaters Zeiten plagten sich die Menschen auch mit den außergewöhnlichsten Gebresten aller Art herum und fanden dann irgendwo eine warme Quelle, vergruben sich tagelang im Heu oder schmierten sich hochprozentige Destillate aller Art auf die Haut, wobei sie nie vergaßen, den Rest der Leber und dem Gemüt für ein wenig Frohsinn abzugeben. Aber es geht bei meinem Fall weder um warme Quellen, noch um Heu. Pfarrer Kneipp wusste zwar immer Rat, aber selbst in seinen Schriften war nichts zu finden, was für mich praktisch zur Anwendung kommen könnte. Leider übergeht die klinische Medizin die Kneippchen Methoden. Damit muss der Stadtmensch , ob er will oder nicht, leben. Also schaue ich mir im TV einen Mordbubenfilm aus Hollywood an und schleiche mich zerknirscht ins Bett, wo mir nachts meine „restless legs“ den Rest geben. Würde man Dreh- und Windungen meiner Beine mit einer ständig laufenden Kamera aufnehmen und später mit Zeitraffer ablaufen lassen, käme jeder vernünftig denkende Mensch auf die Idee, dass mich der Turboveitstanz während des Schlafens im Liegen überfallen hätte. Drei Stunden Schlaf und diese vermaledeite Dunkelheit treiben selbst den abgebrühtesten Masochisten in die Flammen des Höllenfeuers. Eine Blitzidee, geboren aus der Verzweiflung zwingt mir die Überlegung ins Hirn, am anderen Tag den Orthopäden aufzusuchen und solange zu insistieren, bis mir eine Reha-Kur in einer neurologisch-orthopädischen Klinik verordnet wird. Ein letzter Strohhalm der Hoffnung. Ich musste aus diesem Jammertal der großen Krankheitswüste heraus und alles in Bewegung setzen, was mir an nicht gerade üppigen Maßnahmen noch übrig geblieben war. Den Rest der Nacht verpuppte sich mein Leiden unter der Bettdecke in der Zufluchtshöhle der letzten Hoffnung.

Den Orthopäden habe ich schon per e-mail vorgewarnt und gegen Mittag des darauffolgenden Tages schleppe ich mich zur Busstation, um mit Hilfe öffentlicher Verkehrsmittel zu dem einzigen Arzt zu gelangen, der mich einigermaßen versteht, auch wenn er ein eingefleischter Knochenbrecher ist. Seine Praxis liegt hoch über den Dächern der Stadt und bei schönem Wetter hat man einen schönen Panoramablick bis runter nach Bonn. In der Praxis kennen mich die Angestellten, besonders mit der türkisch stämmigen Assistentin pflege ich ein gutes Verhältnis. Sie unterstützt mich bei allen Fragen und ich wusste,  dass sie mich gut leiden konnte, weil ich immer bereit war, einen Plausch mit ihr zu machen. Ich glaube, dass sie ebenso medizinisch gebildet ist wie der Arzt und in praktischen Dingen vielleicht noch besser war. Man mochte mich, selbst wenn ich mich hin und wieder als aufdringlich und drängend zurücknehmen musste. Was sagte die Röntgenfotografie und welche Schlüsse konnte der Facharzt aus den Aufnahmen als Produkt einer etwas unterbelichteter Durchleuchtungsmethodik ziehen. Er sagte, dass alles, was er sieht und deuten konnte, eine orthopädisch eindeutige Lagebeobachtung zeigte, was nichts anderes bedeutete, dass in seinen Augen keine ungewöhnlichen Veränderungen zu sehen waren. Der Orthopäde kannte sämtliche Knochen des menschlichen Gerippes und ebenso die Anatomie des Menschen, die ungefähr 206 Stabilisatoren ein funktionstüchtiges Gesamtwerk stützen. Er wusste, so nahm ich an, wo die Nervenwurzeln aus dem Spinalkanal sprießen, ob irgendwo leichte Dellen oder Verdickungen zu sehen wären und wenn ja, was die Medizin für Antworten parat halten könnte, die im schlimmsten Fall eine invasive Maßnahme erforderten. Er vermochte aber nicht zu beurteilen, wenn sich ein kleiner Schaden um einen Nanomillimeter verschoben oder in sich verdreht hatte. Diese wahrscheinlichen Verursacher der Qualen, konnte er auf dem schwarz-weißen Querschnitt der Knochen,Wirbel oder Bandscheiben, deren Ränder im Durchleuchtungsverfahren unscharf wiedergegeben wurden nicht mit einem exakt geschnittenen Scherenschnitt vergleichen, der weit präzisere Aufschlüsse hätte zeigen können. Was er sehen konnte, war prinzipiell zu undeutlich und konnte für einen deutlichen Rückschluss nur vage beurteilt werden. Diese möglichen Veränderungen konnten, wenn überhaupt, nur von einem übergeordneten Nervenspezialisten gedeutet werden, dem hochtechnologische Apparaturen wie MRT oder CT zur Verfügung standen. Sein Resümee: Die Schrauben waren fest verankert und sitzen genau dort, wo sie hingehören. Zwischen dem 5. Lendenwirbel und dem 1. Teil des Sakralbeins, auch volkstümlich Steißbein genannt. Wiederum fragte ich mich, woran er das erkannte, denn ich sah nur ein abstraktes schwarz-weißes Bild, was auch in einem Schattentheater darzustellen sein könnte. Ich erkenne unscharfe Schemen und wenn ich eine derartig nebulöse Belichtungsunschärfe auf einem meiner Fotos entdecken würde, käme gleich eine 800 Prozentlupe zum Einsatz, um mich zu vergewissern, ob in den Unschärfen etwas Schlüssiges zu erkennen war. Oder nicht. Kurz und gut, die Ratlosigkeit blieb vorerst und es war keine Schande, wenn der Arzt auch ein vielsagend ratloses, aber auch ein irgendwie pragmatisches „So ist das eben“ Gesicht zog. 

Mein wichtigster Trumpf, eine außerordentlichen Reha zu erhalten, war noch nicht gespielt und jetzt würde das Kreuzas für mein Kreuz auf den Tisch geschoben, leicht, geradezu verhalten, aber behände, so, dass ein Widerspruch sinnlos sein könnte, weil mein Blick flehend durch den Raum flatterte. Das mache überhaupt keine Umstände, denn natürlich können wir eine Reha beantragen und noch ehe ich meinen Wunsch als eine der letzten Hoffnungen weiter erklären konnte, tippte die Arzthelferin schon die Parameter meiner Leidensgeschichte, die im Computer gespeichert war, auf ein gesondertes Formblatt, das auf Tastendruck im Bildschirm erschien. „Sie brauchen auch stärkere Medikamente,“ sagte er, „da hilft kein Paracetamol oder Ähnliches, selbstverständlich verschreibe ich die, aber passen sie auf und übertreiben sie nicht. BTM, Sie wissen schon.“ „Was halten Sie von Unterwassergymnastik oder Stromschwingungen; alles kann Sinn machen und  helfen,um für die Beseitigung  ihrer Beschwerden förderlich zu sein.“ Die entsprechenden Formulare mit der Unterschrift des Doktors lagen schon parat. Es war wie ein Wunder, dachte ich und beim nächsten Gedanken, bezichtigte ich mich der Blödheit, nicht schon früher an diese Möglichkeiten gedacht zu haben. Wenn ich es richtig anstellte, konnte ich mit der Allmacht der Ärzteschaft meine Gesundung in allen möglichen Fazetten vorantreiben. Euphorie der milderen Sorte strömte durch mich und auch wenn ich wie so oft immer noch zweifelte, könnte es ein Anfang sein. 

Die Zeit ist vermeintlich unbestechlich aber sie demaskiert den wartenden Menschen immer wieder mit Daumenschrauben aus Geduld und verwandelt in zitternden Hängepartien je nach Nervenstärke auch den härtesten Stoiker zum Kasperle. 

Der Tag verging, die erste Euphorie war gedämpft, selbst wenn hinter dem Grau des Novemberhimmels ein diesiges Leuchten auftauchte. Ach wenn man nicht daran glauben mochte und sich nicht sicher war, verdüsterte sich in wenigen Augenblick der Himmel und verklebte wie eine grauschleimige Soße aus Ekel und Selbstmitleid alles, wohin man schaute. Der allgegenwärtige Trübsinn  ergoss sich als Regen endlos über die Stadt. Mit grimmigen Humor kam mir in den Sinn, dass der ganze Zauber des Lichtes vielleicht doch nur durch eine verirrte Hamas- oder Hisbollahrakete ausgelöst wurde, die sich nordwärts durch den Iron Dome der israelitischen Himmelsvergitterung verirrt hatte. Ein weiterer Quälgeist erhob sich aus dem Tagesgrau und die hereinbrechende Nacht kündigte die nächste Aufführung meines Zappelbeinballets an und ließ mich vor lauter Angst vor den endlosen Stunden der Dunkelheit schon im voraus die endlos vor sich hin schleichenden Sekundenzeiger vorausahnten. Die Vorahnung ließ mich mehr grausen als die sich langsam vorwärts schraubende Zeit einer neuen endlosen Nacht.
Kaum lag ich im Bett, hatte das Licht ausgeschaltet und die Augen geschlossen, bekam ich den Eindruck, dass beide Beine wie bei einer Marionette an Fäden hingen und so reagierten, als würde die unsichtbare Hand des Puppenspielers unter wechselnden Stromstößen stehen. Unter völlig unrhythmischen Zuckungen schaukelte ich hin und her, auf und ab, bewegte mich im Kreis und überschlug mich. Von Stunde zu Stunde bewegten sie sich schneller, drehten Pirouetten und gerieten mit der Zeit außer Rand und Band. In meinem Kopf drehte sich alles, wirbelte herum, narrte mich mit immer irrwitzigeren Kapriolen, bis ich abrupt und voller Verwirrung aufstand und tappte wie ein Zombie eine Weile hin und her. Kaum lag ich wieder, folgte die nächste Welle wieder los und ich bewege in meinen Gedanken die Möglichkeit, einfach aus dem Fenster zu springen, damit endlich dieses irrwitzige Tohuwaboho ein Ende hat. Warum ich, was habe ich um Himmels Hölle Willen getan? Die Ratlosigkeit und mehr noch eine sich in mir breit machende Hilflosigkeit lähmte mich und trieb mich trotzdem ins Bett zurück, wo eine erneute Scharade aus der tiefsten Hölle unweigerlich von mir Besitz ergreifen würde, sobald ich lag. Was anfangs noch mit Willen und innerem Widerstand durchzustehen war, bereitete mir nach mehreren Tagen schon morgens Ekel und Verdruss, sowie eine Angst, die sich aus einer selbst erfüllenden Prophezeiung speist. Und trotzdem sehne ich mich nach einer derartigen Turbonacht mit zwei Stunden Schlaf nach neuen Projekte, die ich schon lange in meinem Kopf habe reifen lassen.  

Mein Freund, der Medizinmann, in allen Fragen zwischen Kopf und Füßen beschlagen, lebt zwar in Berlin, erklärt mir aber, dass es vielleicht daran liegen könnte, dass der Druck auf die Nerven nachlässt, wenn ich mich in eine Ruhestellung bewege und dass ich in dem Fall erst recht Opioide nehmen sollte, damit sich die Nerven mit deren Wirkung lahm legen lassen. Auch wenn ich nur ungern diese härteren Arzneimittel beanspruche, musste es diesmal sein und ich war verwundert, dass es so gut funktionierte.

Zusätzlich zu meinen Knochen, Nerven und Muskelschmerzen stellte ich fest, dass mein linkes Ohr fast taub geworden war, ein Phänomen, das ich schon kannte, weil die Überproduktion von Schmalz zu groß war. Ich erinnere mich, von dieser Ohrverstopfung schon einmal befallen worden zu sein. Wir waren in Paris, es muss im November gewesen sein und ganz Paris fühlte sich eiskalt an, so dass wir nach dem ersten Abendessen auf einer mit Gaspilzen geheizten Terrasse in der Nähe des Place d´Italie beide tagelang mit Fieber und Grippe und all den schmerzhaften Begleiterscheinungen dieser Winterseuche in einer kleinen Wohnung flach lagen, die wir für den Aufenthalt gemietet hatten. Ich bekam fast 40 Grad Fieber, schluckte Massen an dubiosen französischen Grippe- und Schmerzmitteln, wälzte mich schwitzend und in einem Nirwana artigen Trancezustand auf den harten Matratzen, die wir auf dem Boden ausgebreitete hatten. Eva ging es auch nicht viel besser, aber sie schaute alle drei oder vier Tagen nach dem Auto, dass wir zwecks Parkgebührenvermeidung außerhalb der Peripherique geparkt hatten. Alles war in Ordnung und selbst die ansonsten üblichen Spiegeldemolierungen oder Kratzer an den Türen waren an uns vorüber gegangen. Nach einer Woche kamen die Lebensgeister allmählich zurück. Wir waren zwar schlapp und wackelten elendig auf den Beinen hin un her. Wir konnten endlich heimwärts fahren. Bei dieser Fahrt bemerkte Eva, dass ich auf dem linken Ohr nur rudimentäre Wortfetzen mitbekam und machte mich darauf aufmerksam. Ich selbst war noch so von der heimtückischen Krankheit geschwächt und noch nicht ganz bei Sinnen dass mir fast alles egal war. Zuhause hat mir dann ein netter Ohrendoktor mit einem Sauggerät den zwischen Hammer, Schnecke und Steigbügel festverklebten Schmodder entfernt.

Inzwischen verstehe ich besser, wenn irgendein schwer auszusprechender medizinischer Begriff, genuschelt wurde und da ich von einer großen Vorstellungskraft gesegnet war. Zudem beherrschte ich Latein und mir konnte mir einiges zusammenreimen. Ob es mir helfen würde, war eine andere Frage und schließlich half  kein noch so angelerntes Wissen, was scheinbar Verständnis erzeugte. Was konnte ich noch machen, was blieb mir übrig, was ich mir ausdenken konnte? Was würde mir die kommende Zeit anbieten und wie würde ich mit jeder noch unbequemen Wahrheit fertig werden. Eine Wahrheit, die ich vielleicht nicht erwarten würde. So wie ich das aktuell beurteilen konnte, würde von der Gilde der Neurochirurgen nichts mehr zu erwarten sein und mir schwante allmählich, dass es ein rein neurologischer Defekt sein musste, der mit MRT-Bildern und standardisierten Begriffswendungen nicht aufzuspüren sein konnte. Auch wenn ich darauf drang, wirklich alle in Frage kommenden Marker im Blut zu berücksichtigen, hielt sich weder der Arzt noch das Labor an diesen Wunsch. Was sollte das sein, was mir um Kopf herumschwirrte: Boriolose, Schwermetalle, Arsen oder unbekannte exotische Pflanzen- und Tiergifte? Ich hörte sie schon lamentieren: „Was bildet sich der Herr ein, denn derartige Marginalkrankmacher seien zum einem schwer zu finden, wenn sie überhaupt aufspürbar waren und wieviel Geld würde es kosten, weil die meisten Verfahren der Diagnostik noch nicht ausgereift waren. Das Geld bestimmte die Frage der Spekulation auf das Unbekannte und die Kosten jeder neuen Diagnose seien unbezahlbar. Was würde man suchen, was wäre zu finden, wenn alles nicht helfen würde, weil es vorläufig als unbekannt bewertet wurde und als zu kostspielig galt. In jeder zweiten Illustrierten schwadronieren bekannte, selbst ernannte oder alternative Knochen- oder Nervendoktoren, von denen die wenigsten Orthopäden oder Neurologen waren, wie der leidende Mensch, der von Rücken oder Hüfte oder Knie gepiesackt wurde, mit sehr geringen Bemühungen ein Leben lang fit und gut beweglich werden konnte. Vorausgesetzt er würde sich die entsprechend angebotenen  Bücher oder Anleitungen kaufen und durchlesen. Nutzlose Schriften, die mit Porto nicht unter 15 Euro zu erstehen waren. Ich habe mir vor einigen Jahren auch drei oder vier dieser Machwerke mal gekauft, die aber nach kurzer Lektüre im Jenseits verschwanden. Das Ehepaar ist bekannt, aber wer sich in dieser Branche auskennt oder schlau gemacht hat, bemerkt sehr schnell, dass es ohne kompakte, strukturierte Programme, die an feste Termine gebunden sind, auf die Dauer nicht funktioniert. Wer es sich leisten kann, befürwortet das bekannte Kiesertraining oder geht in eine Spezialklinik, wo Tag für Tag konsequent nach gut ausgearbeiteten Plänen, peu a peu, eine Gesundung gewährleistet werden kann. Letzteres erscheint mir eine Erfolg versprechende Methode zu sein, aber wie kann ich im Medizinbürokratiedschungel eine Institution finden, deren Leistungen auch von meiner Krankenkasse bezahlt werden und deren Angebot seriös und zertifiziert ist. 

Der Orthopäde fackelt nicht lange und füllt einen Antrag auf REHA im Bereich der Lendenwirbel aus. Der Antrag geht sofort an die Vorsorgeabteilung der Krankenkasse und nun habe ich wahrscheinlich drei oder vier Wochen Zeit, bis ich irgendein Papier in den Händen halte, welches entweder positiv oder aber auch ablehnend sein kann. Warten immer wieder Warten und Geduld aufbringen. Das wäre noch gut auszuhalten, aber die Schmerzen werden immer schlimmer, so dass ich an manchen Tagen vor Schmerzen und Bewegungsunfähigkeit gerade mal den Weg zur Toilette schaffe. 

Irgend wann fällt der Begriff Polyneuropathie, den ich zwar schon kenne, aber nicht weiß, was dahintersteckt. Neurologie erweist sich von nun an als Zauberwort und ich suche im Internet nach Kliniken, die auf Erkrankungen der winzigen Nervenfäden spezialisiert sind, die so quälend sein können. 

Ich lese mir die Texte genau durch und kann danach schon selektieren, was für mich in Frage kommen könnte. Die Uniklinik hat eine Abteilung und nach einer Woche, inzwischen bin ich schon von den Schmerzen zermürbt, beschließen wir ins Unicenter zu fahren. Notfallmäßig. Diese Vorstellung ist immer, wie wir wissen, mit Wartezeiten verbunden, aber das ist mir angesichts meines Zustandes gleichgültig. Als ich an der Reihe bin, überprüft eine Ärztin mein Gesamtbild, was ich daraufhin angebe. Sie weist mich nach einiger Zeit in die Neurologie ein. Wie immer haben wir das Notwendigste mitgenommen und eine Stunde, nach den üblichen Blutuntersuchungen befinde ich mich in einem düsteren Zimmer. Medikamente wurden schon verabreicht, das, was sich Essen nannte, habe ich halb stehen gelassen und mich ins Bett gelegt.

Laptop auf und die Gedanken fließen lassen, sofern sie geordnet irgendwo zu finden waren. Tilidin kannte ich schon aus den ersten Wochen, nachdem die Erkrankung ausgebrochen war und im Uniklinikum geizte man nicht mit Opioid. Am Nächsten Morgen, ich war noch schlaftrunken, erschienen zwei Ärzte und fragten mich weiter aus, aber ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass sie meine Schmerzen und die Behinderungen nicht ernst nahmen und ihre Rhetorik klang so, als sei ich ein Simulant. Sie sprachen von weiteren Untersuchungen und verschwanden wieder. Während des Tages in dem düsteren Krankenzimmer, das eher wie ein Hinterzimmer einer Schlachterei aussah, schaute ich mir Filme an, die mich zwar kaum interessierten, aber die Zeit schneller vergehen ließen. Um 20 Uhr versuchte ich zu schlafen, aber von Beginn an, gehörten schlaflose Nächte zu meinem Tages-Nacht-Ablauf. Die Beine zappelten und die Oberschenkel brannten oder fühlten sich an, als würde permanent ein Messer in den Muskeln stecken. Am Morgen wurde ich von einem der Ärzte geweckt und der teilte mir unter unverhohlener Antipathie mit, dass sie beschlossen hätten, dass ich noch an diesem Morgen das Krankenhaus verlassen müsse. Als Begründung gab es nur die Annahme, dass sie nichts für mich tun könnten und sie auch nicht daran glaubten, dass ich eine ernsthafte Krankheit habe, weil die Blutergebnisse nichts Besorgnis erregendes ergeben hätten. Wahrscheinlich wäre es ein vorübergehendes Phänomen, das sie aber für harmlos hielten und ich wiederkommen solle, wenn es sich verschlimmern würde. Ich kochte vor Enttäuschung und Wut, packte meine Klamotten zusammen und rief meine Frau an, die mich etwas später abholen kam. Diese Unverschämtheit nagt noch heute an mir. Aber was nun? Zunächst schrieb ich an den Patientenschutz, um die Zustände in der Klinik und das Verhalten der Ärzte bekannt zu machen. Weitersuchen, es wird doch sicherlich irgendwo in Deutschland eine Klinik geben, die mir helfen kann. Inzwischen schickte die Krankenkasse die Ablehnung des Rehaantrags. Die fadenscheinigen Gründe zeigten mir, dass sich die beurteilenden Mediziner sich keine Mühe gemacht hatten, zumindest die chronischen Schmerzen innerhalb einer Schmerztherapie behandeln zu lassen. Die Bürokratie der Krankenkasse zeigte mir ihr Desinteresse und versteckte sich hinter Paragrafen, um sich abzusichern. Inzwischen waren fast 3 Monate vergangen und ich wusste weder ein noch aus. Trotzdem musste ich weitermachen, denn diese Krankheit würde nicht von selbst verschwinden. Diese Krankheit war noch nicht erkannt worden. Wenn eine Erkrankung, die noch nicht einmal schlüssig erklärt worden war und viele undeutliche Symptome aufzeigte, die Mediziner und Physiologen rätseln ließ. Keiner schien zu wissen oder sich bemühen zu wissen, welche Gründe die Auswirkungen der Krankheit haben könnten und in einer spekulativen Vermutung wurden ca. 400 bis 600 Quellen  genannt. Der Eindruck entstand, dass die gesamte Ärzteschaft nicht mit dem rätselhaft klingenden Krankheitsnamen zurecht zu kommen schien. Polyneuropathie oder „Viel zu viel Nervenversagen oder Nervenquetschung und keiner weiß warum. Häufigste Ursachen werden der Diabetes und der Trunksucht zugeschrieben, beides gehört nicht zu meinen Blut- oder Leberinhalten. Wäre ich doch überzeugt davon, dass die Erkrankung schon lange Vergangenheit wäre, wenn die Bürokratie, Feiertage und Warteschlaufen am Telefon nicht wären. 

Kliniken, die sich auf neurovegetative oder neurologische Erkrankungen spezialisiert haben, gibt es viele, aber es kommt darauf an, ob eine Behandlung  von der gesetzliche Krankenkasse bezahlt. Daneben existieren private Einrichtungen, die aber das Portmonee arg strapazieren. Nachdem ich wieder und wieder die Internetseiten strapaziert hatte, fiel mir wieder ein, dass es in Köln eine Klinik gibt, die ich aber bei meiner Suche vernachlässigt hatte. Eine evangelische Klinik am Stadtrand, die immer wieder empfohlen wurde und die wir sträflich vernachlässigt hatten. Wir beschlossen, in die Notaufnahme zu gehen. Welch Unterschied. Von Anfang an, hatte ich das Gefühl, dass ich hier ernst genommen wurde und nach einer gründlichen Notaufnahmebehandlung mit Bluttest, EKG und Abfrage aller körperlichen Parameter wurde ich aufgenommen. Ich fühlte mich verstanden und glaubte, dass mir diese Menschen helfen würden. Untersuchung folgte auf Untersuchung und nachdem ein normales MRT gemacht worden war, durchleuchteten sie meinen Kopf und anschließend wurde ein MRT mit Kontrastmittel durchgeführt. Die Elektroreizuntersuchung an den Beinen ergab weitere Aufschlüsse. Aber es fiel mir schwer, zu gehen und ich war gezwungen, mich in die gezwungene Langsamkeit zu begeben. Nach ein paar Tagen besuchte mich ein Physiotherapeut, der mich, in meinem Zustand der eingeschränkten Beweglichkeit, mahnte, das Gehen wieder zu üben. An Weihnachten bin ich dann sehr langsam die vier Treppen zum Eingangsbereich heruntergestapft, immer mit einer Hand das Treppengeländer als Stütze zu nutzen. 

Ich blieb über Weihnachten in dem Krankenhaus, das kam mir zupass, dass die Ärzte einverstanden waren. Für die meisten würde Weihnachten in einer Klinik abschreckend wirken, aber für mich entpuppte sich die Zeit als wahre Wohltat. Als bekennender Weihnachtsgegner war das ein Geschenk der größten Güte. Zuhause hasste ich die Konventionen und den Konsum mit den diversen beliebigen Geschenken, jetzt, da ich schon einen Zwangsaufenthalt vor mir hatte, war ich froh. Weihnachten wurde schon seit einigen Jahren, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, überließen wir allen anderen, dieses verlogene Gedöns hochleben zu lassen. Heiligabend kehrte Ruhe auf der Station ein, die meisten Patienten wurden entlassen oder entließen sich selbst und die Zahl der Ärzte wie das des Personals wurde dermaßen ausgedünnt, dass ich teilweise das Gefühl hatte, in einem Geisterflur untergebracht worden zu sein. Die Leere gefiel mir und auch wenn ich sehr an das Krankenzimmer gebunden war, hatte ich keine Langeweile. Einen Tag vor Sylvester wurde ich entlassen und obwohl ich immer noch stark gehbehindert war, freute ich mich, wieder in unseren vier Wänden zu sein. Der Kampf um die Reha und auch die Bemühungen, meinen Gesundheitszustand zu verbessern, ging weiter. Zunächst musste ich warten, weiter warten, besser warten, weil in der Woche nach Neujahr die meisten Ärzte ihre Praxen geschlossen hielten und das öffentliche Leben erst nach dem 7. Januar weiterging. Die Hausärztin war in Urlaub und auch die Praxis des Orthopäden blieb geschlossen. Am 15. Januar konsultierte ich meine Hausärztin und gemeinsam formulierten wir den Antrag auf eine Reha-Maßnahme. Immer noch dachte ich, dass es dieses Mal schneller gehen würde, aber die Zeit verging, ohne dass sich etwas tat. Obwohl ein Mitarbeiter der Krankenkasse mir bei einem Anruf keine Hoffnung auf eine schnelle Entscheidung machte, dachte ich, dass es allmählich Zeit sei, dass ich irgendeine Hinweis auf die nahe Zukunft bekommen würde. Nichts. Ich war immer noch nicht in der Lage mehr als 500 Meter zu gehen, ohne danach große Schmerzen zu verspüren. Karneval ging vorüber und auch der Februar verlief ohne Nachricht der Krankenkasse. Meine Nerven blieben gespannt, dennoch musste ich weiter warten. ich fühlte mich besser, weil ich wieder arbeiten konnte und in dieser zeit entstand eine Reihe Bilder aus meiner Serie kunstkontrovers. Drauf war ich stolz, denn mit diesem Konzept betrat ich ein neues Terrain meiner Gestaltungstechnik. Es regnete und regnete, die Winter schien nicht vorüberzuziehen und meine Stimmung war mehr als gedämpft. Ende März hatte Eva die Idee, für drei Tage in das Thermalbad Spa zu fahren, um im Thermalbad Entspannung zu finden und in einem guten Hotel etwas Abstand zu gewinnen. In Spa, weltbekannt durch die Therme und das Heilwasser, wo sich gekrönte Häupter der Nichtstuerdynastien schon seit dem 19. Jahrhundert ein Stelldichein der gehobenen Langeweile gaben, sprudelte eine warme Quelle aus einem Berg und die sollte mir Linderung meiner Malaisen bringen. Das Thermalbad war zwar großzügig mit einem runden Becken und einem Aussenschwimmingpool ausgestattet und auch Saunen und Hammams wurden angeboten, aber das Wasser im Schwimmbad war zwar warm, aber reichlich gechlort. Warmes Normalwasser auf hohem Niveau serviert. Starke Düsen, die unter Wasser die Haut walken konnten, war eigentlich das Beste an diesem vermeintlichen Nobelort und mit 30 Euro für drei Stunden waren wir dabei. Zwei Stunden reichten uns und das Abendessen in einer Rennfahrerklause war schnell auf dem Tisch schmeckte wie 500 PS. Am zweiten Tag kam die Sonne raus und gleich saßen viele in den zahlreichen Straßencafés am Place Achille Salée. ich betrachtete das als Einladung endlich wieder mal ein Trappist zu trinken, aber meine Lieblingsbiere standen nicht auf der Karte, also nahm ich ein Leffe Brun. Neben mir saß ein älterer Mann, ob er jünger oder älter als ich war konnte ich nicht sagen, war aber reichlich gleichgültig. Er beschrieb mir wie die große Flut durch Spa gerauscht war, als im Ahrtal die große Katastrophe vermeldet wurde. In Belgien traten auch alle Flüsse und Bäche über die Ufer und sehr viele Häuser entlang der Ufer wurden verwüstet. Ich liebe es, in Belgien oder Frankreich ins Gespräch zu kommen und mein Französisch weiter aufzupolieren. Dieses Wochenende versprach viel, hielt aber letztlich nur das, was auf der Rechnung stand. Trotzdem. Seit langer Zeit war ich wieder einmal aushäusig und am Ende konnten wir die leckeren Konfitüren oder Marmeladen, Käse, Salzbutter und Trappistenbier bei Delhayze kaufen, um zuhause das Schlemmen noch ergiebiger zu gestalten. Einen Tag sind wir nach Dinant gefahren, Eva war noch in dieser Gegend, die als Perle der Wallonie gilt. Es regnete, aber Dinant ist auch bei usseligem Wetter eine Reise wert, leider war das Licht für meine Fotos zu dunkel und die Formen und Farben der Hausfassaden wie des Festungsbaus auf dem Berg kamen nicht zur Geltung. Wenn ich aber heute sehe, was ich fotografiert habe, reicht die Belichtung aus. Zeitgleich kam die Zusage der Krankenkasse, aber vierzehn Tage zuvor musste ich sämtliche Befunde aller bisher konsultierten Ärzte einreichen, damit der Medizinische Dienst auch glücklich war, seinen Senf dazu zu geben, obwohl diese Forderung entgegen alle gesetzlichen Vorschriften verstieß, denn es braucht ab siebzig lediglich der Expertise eines Facharztes. Immer wieder habe ich telefoniert, um Druck zu machen, damit mir eine Klinik vorgeschlagen wird. Aber auch diese Bemühungen dauerten. Schließlich bekam ich eine Zusage aus der Aatalklinik in Bad Wünnenberg bei Paderborn und bevor ich eine noch längere Wartezeit erdulden musste, sagte ich zu. Allerdings nicht für den Mai, weil in dem Monat zu viele Feiertage im Kalender stehen und Feiertage verkürzen die eigentliche Therapiezeit wesentlich. Jetzt sitze ich schon vierzehn Tage in Zelle 203 und sehe jedem Tag mit sehr ambivalenten Gefühlen entgegen. Die einzige Konstante sind die Essenszeiten und die immer gleiche Kost aus minderwertigen Produkten.

Die Zugfahrt mit nicht zu identifizierbaren Blessuren zwischen Köln und Beziers

Das Hazardspiel Macrons und die ungewisse Zukunft Frankreichs

Weil die meisten Deutschen überhaupt nicht verstehen, welche politische Brisanz die Auflösung des Parlaments durch den Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Frankreich nach sich gezogen hat, indem in einem sehr kurzen Zeitraum von 4 Wochen Neuwahlen angesetzt wurden, die alle wahlfähigen Einwohner des Landes in einen Zustand  versetzten, der sich für viele wie ein Schock angefühlt haben muss. Besonders in den Medienanstalten und Parteizentralen muss diese Mitteilung des obersten Herrn, der über die Belange Frankreichs wie ein Monarch entscheiden kann, wie ein Blitz oder eine Bombe eingeschlagen sein, weil sie ab diesem Moment vor die Aufgabe gestellt waren, sich mit allem, was sie an Mitarbeitern und Thinktanks beschäftigt hatten, voll und ganz auf einen Kurzstreckensprint über 4 Wochen zu konzentrieren. Vier Wochen ist für einen Wahlkampf wirklich wie ein 9,8 Sekundenlauf, weil zum Beispiel in Deutschland mindestens ein halbes Jahr an Vorlaufzeit eingeplant werden muss, um in einem totalen, alles andere beiseite schiebenden Wahlkampf sämtliche medialen Bereiche wie Fernsehen, Rundfunk, Social Media, Internet aber auch alle anlogen Printmedien für Anzeigen, Flugblätter, Plakate etc. auf Hochtouren zu bringen und eine zerfaserte Parteienlandschaft von ca. zwanzig Gruppierungen auf diese beiden Tage der Wahlentscheidung zu trimmen.

Weil wir seit dem 21. Juni in Frankreich sind und in einem einsam gelegenen Haus an der Atlantikküste so etwas wie Ferien machen, habe ich mich nicht besonders mit dieser Herausforderung an die französischen Wähler gekümmert und viel mehr mit meinen Projekten und auch der Aufarbeitung meiner Erkrankung beschäftigt war, gekümmert, auch weil ich nirgendwo Plakate gesehen habe und im TV fast ausschließlich arte auf deutsch geschaut habe. Erst in den letzten Tagen, als in den Zeitschriften, die ich im Internet lese, immer bedrohlichere Nachrichten über die Situation hier über das Display erschienen, schaltete ich F1, F2, M6 und BFMTV ein, um zu sehen, was ich in den direkten Medien an Reportagen, Diskussionen, Talk-Shows und Wahlwerbung mitkriegen konnte. Nun muss ich vorausschicken, dass ich Französisch zwar ganz passabel sprechen kann und alle Belange und Herausforderungen des täglichen Lebens meistere, sind politische Formate wie Diskussionsrunden oder Interviews oft nur bruchstückhaft einzuordnen, auch wenn ich subtitles einschalte. Die Politprofis wie auch alle Moderatoren und interviewten Personen sprechen einfach zu schnell, um ihnen so folgen zu können, um jedes Wort, jede Redewendung und jede sprachliche Eigenheit wie auch die Dialektfärbungen verstehen kann. Aber die wesentlichen Inhalte kann ich nachvollziehen und ergänze mein neues Wissen, indem ich in französischen wie deutschen Zeitungen übers Internet alles nachlese. Zusätzlich habe ich aus den Mediatheken von arte, ARD und ZDF ein paar Dokus oder Reportagen herausgepickt, die sehr nahe am Thema waren. Ich denke, dass mein Text einigermaßen aufschlussreich ist und die wichtigsten Informationen so objektiv wie möglich wiedergeben. 

Heute Morgen begann meine Recherche mit einem Schrecken: Die Möglichkeit einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang ist für keine der zur Wahl stehenden Parteien möglich, aber der RN=Rassemblement Nationale kann im ersten Stimmengang 36% oder sogar mehr erreichen, wobei der neue Zusammenschluss fast aller linken Parteien, nämlich 10 Gruppierungen, bei 29% liegen und Macrons Ensemble 20%. Macron, der große Verlierer der Europawahl (wie auch sein nicht so eloquenter Kumpel Olaf) ist auch der Verlierer der Parlamentswahl. Wenn es so kommen könnte, wie es nach den Umfragen  Macron hat demnach keine Machtbasis mehr und in der Stichwahl am 7. Juli treffen RN und FP (Rassemblement vorausgesagt wurde, entsteht in Frankreich eine Situation, die eigentlich keiner wollte, die aber der narzisstische Emmanuel Macron wie ein trotziges Kind, dessen Teddybär geklaut wurde, mit seiner Egotour, ohne den Premier zu unterrichten, den Französinnen vor den Latz geknallt hat. Der RN=Rassemblement Nationale =Le Pen, Bardella) und Nouveau Front Populaire (Sozialisten – Olivier Faure, La France Insoumise – Melenchon) und die übrigen Parteien auf der linken Seite mussten nun sehen, wie sie alles in die Waagschale legen mussten, um zumindest die Stammwähler zu erreichen. 

Am Sonntag, den 30. Juni wird am Abend zu sehen sein, was diese Wahl für Frankreich bedeutet. Es würde bedeuten, dass zwei Szenarien denkbar sind. Gewinnt Jordan Bardella – Marine Le Pen, muss Macron eine Cohabitation (eine Regierungsgemeinschaft) gezwungenermaßen eingehen, gewinnt die Front Populaire mit wem auch immer als Kandidaten für das Amt des Premiers ebenso. Letzteres erscheint zumindest bis dato unwahrscheinlich, weil der Zusammenhalt in einem derartigen Bündnis erfahrungsgemäß sehr fragil ist. Dabei wird es beim NFP nicht zu einem Kandidaten Melenchon (Vorsitzender La France Insoumise – sehr links) kommen, weil das eine Voraussetzung des Bündnisses ist und sicherlich auch vernünftig ist, weil man Wechselwähler und Unentschiedene auf seine Seite ziehen will. Wahrscheinlicher wäre ein Parteiloser, ein Technokrat, der eine Nähe zur Industrie hat oder Wissenschaftler wie Politologen, Soziologen oder Volkswirtschaftler. Bislang ist noch kein Namen im Gespräch. 

Der junge Le Pen Zögling Jordan Bardella. der vom RN aufgestellt worden ist, wäre der jüngste Premier, wenn die absolute Mehrheit feststeht, aber auch der jüngste Oppositionsführer im Fall des zweiten Platzes. In der Vergangenheit, die seit dem nicht mehr aufzuhaltenden Zerfall der konservativen Republikaner und Gaullisten geprägt war, stand einem bürgerlichen oder sozialistischen Kandidaten Marine Le Pen gegenüber, die bislang immer auf Platz kam. Das Ergebnisse war allerdings beim letzten Mal, als Emmanuel Macron siegte, zunächst im ersten Wahlgang relativ knapp wie schon 5 Jahre zuvor, aber in der Stichwahl  räumte der Platzhirsch Macron wieder ab, weil die französischen Wählerinnen in der Geschichte der 5. Republik aus Angst vor der Rechtsradikalität des Le Pen Clans lieber einen gemäßigten, bürgerlichen Staatspräsidenten bevorzugten. Seit Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy (Republikaner), Francois Hollande (Solzialist) musste sich der Front National, wie die Partei Le Pen früher hieß, als noch der extrem rechte Vater Jean-Marie Le Pen Vorsitzender der Partei war, immer geschlagen geben. 

Jean-Marie Le Pen ist ein bekennender Antisemit, Rassist und Holocaustleugner und wurde von der Tochter Marine in den Nullerjahren aufs Altenteil geschickt, wobei Marine Le Pen nach einiger Zeit den Begriff Front National aus strategischen und die Wahrheit verschleiernden Gründen in Rassemblement Nationale umwandelte. Sie erkannte, dass das rechtsradikale Image ihres Vaters immer ein Hindernis sein würde, endlich an die Macht zu kommen. Tatsächlich wuchs der RN von Jahr zu Jahr und eroberte einige Rathäuser bis sich der ureigene Gegner, die Konservativen nach der Abwahl von Sarkozy allmählich zersplitterte, sich regelrecht zerlegte und aktuell keine entscheidende Rolle mehr spielt. Hier gilt der alte Spruch, dass der  Wähler und Wählerin oder vereinfacht gesagt, das normal verdienende Volk letztendlich lieber das (rechte) Original bevorzugt, als die großbürgerlichen Konservativen, von denen sie sich seit jeher betrogen fühlten, weil die Prinzip auch unter der Haut immer rechts waren. Aber die Tochter Marine gab nicht auf und hatte vor allem da Erfolg, wo ihre rassistischen Parolen auf fruchtbaren Boden fielen. Die von der Globalisierung betroffenen Regionen in den einstigen industriellen Hochburgen wie dem Kohle- Erzrevier Lille, Roubaix, Lens, Valenciennes ging es an den Kragen, weil wie überall in Europa in den 60er und 70er Jahren Kohle und Stahl aus Asien und Australien den heimischen schwarzen Goldadern unter der Erde den Todeshieb versetzten und andere Industriestädte wie St. Etienne, Autun oder Clermond Ferrand, die auch irgendwie von Energie und Stahl abhängig waren, auch in die Krise gerieten und viele Unternehmen ihre Arbeiterinnen entließen, was zu erheblichen sozialen Aufruhr in Form von Streiks, Demonstrationen wie auch offenen Barrikadenschlachten führten. Den Süden erwischte es als nächstes, wobei die Gründe des Rechtsrucks mehr im Rassismus gegen eingewanderte Algerier, Tunesier und anderer Afrikaner lag, die einstmals als französische Kolonien in der Ausbeutung der Menschen und der Bodenschätze für Reichtum ihrer französischen Besitzer gesorgt hatten. Nach der Unabhängigkeit Algeriens und einem beispiellos blutigen Kolonialkrieg wie vordem in Vietnam, Kambodscha und Laos strömten viele arabische und schwarzafrikanische Menschen nach Frankreich und  ließen sich gerne im warmen Süden nieder, wobei nach und nach ganz Frankreich die Folgen ihres Kolonialismus in der Immigration der unterdrückten Völker spüren musste. Im Süden entlang der Küste des Mittelmeers von Menton bis Perpignan, wurden die Rathäuser gestürmt. Mit Toulon und Frejus fing es an und seit Macron sind die Kommunalverwaltungen von Beziers und Perpignan in den Händen des Rassemblement. Den Norden erwischte es noch ärger und weil die Arbeitslosigkeit und Armut in den einstmals stolzen Arbeiterhochburgen an der belgischen Grenze Hundertausende Menschen erwischte, waren die Opfer der Globalisierung ein gefundenes Fressen für die Le Pen Partei. Auch Lothringens Kohle- und Eisenerzrevier ging in den Konkurs: Anneville, Metz, Talange, Guenange bis zur Grenze Luxembourgs erlebten soziale Krisen wie Arbeitslosigkeit und Armut. Die jeweiligen französischen Regierungen versuchten dagegen zu halten, weil Wirtschaftsexperten, Kulturwissenschaftler und Agronomen erkannten, dass sich der Zentralismus von Paris lähmend auswirkte. Die Regionen sollten wiederbelebt werden, aber irgendwie wusste keiner der Hauptstadtpolitiker welche Maßnahmen angeschoben werden mussten, um dem Dilemma entgegenzuwirken. François Mitterand, der erste sozialistische Präsident seit Leon Blum in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gab seinem Kultusminister Jacques Lang alle Vollmachten, um eine föderale Kulturbewegung in Gang zu setzen. Dabei schielten die Mitarbeiter des umtriebigen Lang auch ins föderalistische Deutschland, wo jedes Bundesland eigene pädagogische Lehranstalten, Werkkunstschulen, Ingenieurschulen, Kunstakademien und Universitäten als Flaggschiffe der Bildung etabliert hatten. Studien aus den USA zeigten ebenso, wie in den einzelnen Bundesstaaten Kunst, Kultur und Bildung gefördert wurden. Frankreich war immer ein Filmland und unter Lang wurde die Förderung stabilisiert, wobei französische Filmproduktionen als wertvolles Exportgut sogar Hollywood die Stirn bieten konnte. Französisches Kulturschaffen stand unter besonderen Schutz und bekam dafür protektionistische Sicherheiten. Durch den Begriff „Changement“ und Dezentralisierung entwickelt sich über Jahrzehnte eine Departementsreform, die alle 101 Departements in 18 Metropolregionen verwandelte, wobei die einzelnen kleinen Mandatsbezirke erhalten blieben. Beispiel PACA, das bedeutet Provence, Alpes, Côte-d`Azur  und fügt die Departements Alpes-de-Haute-Provence, Bouches-du-Rhône, Var, Vaucluse, Hautes-Alpes und Alpes-Maritimes mit den Großstädten Marseille und Nizza. Hautes-France – der Nordosten mit den Departements Picardie und Pas-de-Calais, gilt seit dem Zusammenbruch der Schlüsselindustrien Kohle und Stahl als Armenhaus des Landes. Industrie und Landwirtschaft bestimmten das Bild der Region, aber die Großstädte längst der belgischen Grenze befinden sich noch in der Findungsphase einer strukturellen Transformation. Wobei Kultureinrichtungen wie das Museum Louvre Lens zwar als netter Versuch zu bewerten ist, aber nie die Sozial Schwachen so mitnehmen konnte, dass sich daraus neue kulturelle oder soziale Veränderungen ergaben, die tragfähig waren. Da könnte der Fußballclub Lens sicherlich als Identifikationsmöglichkeit mehr erreichen. 

Neben den Minen und hinter den Kohlehalden lagen weite Felder, Äcker und Wiesen, die einen hingen von den anderen ab, aber als die Werkshallen und Zechen die Türen schlossen, fing auch für die Bauern eine andere Zeit an. Versorgten sie bislang millionen Menschen, wanderten die Folgen der Arbeitslosigkeit in die Ställe und Scheunen. Wo das Geld knapp wird, wird weniger eingekauft und neue Supermärkte, die am Rand der Städte in die Wiesen geklotzt wurden, machten den Bauernmärkten in den Dörfern und Städten Konkurrenz. Zudem sorgte die Brüsseler Agrarpolitik für ständige Unsicherheiten und viele kleine Landwirtschaftsbetriebe hielten dem Druck nicht mehr stand und gaben auf. Brüssel war an allem Schuld, hörte man überall die Bauern zornig klagen, aber was sollen wir machen, der Staat lässt uns im Stich. Das dachten aber auch die deutschen Bauern und „erfrechten“ sich, wie manche meinten, den Verkehr in einigen größeren Innenstädten und Berlin mit ihren übergroßen Traktoren zu blockieren. Das gelang ihnen auch und eine Horde brummender Monstertraktoren schafft es auch, den Schlipsträgern in den jeweiligen Regierungen zu erschrecken. Die Brüssler Agrarpolitik will eindeutig zeigen, dass in einem einigen Europa das Arbeiten auf dem Felde und auf Wiesen und Weiden so reguliert werden muss, dass Überproduktionen und Monokulturen allmählich abgebaut werden und die Landwirte, die zu wenig produzieren wie die anderen, die zu viel Tomaten, Gurken oder Mais anbauen, müssen endlich einsehen, dass ein gemeinsamer Agrarmarkt nur dann funktioniert, wenn einerseits die Großagrarbetriebe gestutzt werden und andrerseits die neue ökologischen Anbauversuche unterstützt werden müssen. Die europäische Agrarpolitik war schon immer ein Zankapfel und Länder wie Frankreich, Italien oder Spanien, aber auch Deutschland werden von Brüssel mit sehr viel Geld gepampert, damit die Zukunftswünsche der Agrartechnokraten mit einer gerechten Regulierung die Zukunft planbar gemacht werden. Der Zankapfel Agrarpolitik bewegt seit ich politisch denken konnte, die Gemüter der Politkader in sämtlichen EU-Ländern. Frankreich war immer streitbar und die Bauern schnell bereit, auf die Straße zu gehen oder zu fahren. In der Gelbwestenbewegung solidarisierten sie sich nach einigem Zögern und Zaudern mit denen, die Kreisverkehre, Mautstationen auf den Autobahnen, wichtige Zufahrtsstraßen nach Paris oder andere Großstädte besetzten und teilweise den Verkehr lahm legten. Jeder erinnert sich noch an die gewalttätigen, revolutionsähnlichen Unruhen in Paris, wo die Polizei des Emmanuel Macrons immer wieder mit aller Härte zuschlugen. Die Subventionierung des Bauernstandes und auch eine entschiedene Protektion der französischen Landwirt ist ein Eckpfeiler der neuen Politikpläne des RN, falls sie die Macht oder vielmehr halbe Macht in Paris heute und am 7. Juli an sich reißen könnten. 

Bei diesem Wahlkampf, den ich eine Nacht am Fernsehen in unterschiedlichen Sendern verfolgte, wollen alle, ob der RN oder die Nouveau Front populaire innerhalb des linken Bündnisses, die von Macron einseitig nahezu im Alleingang durchgedrückte Rentenreform Macrons wieder rückgängig machen und dieses Gesetz wieder kippen. Der RN will nicht nur jegliche Migration eindämmen, um es moderat zu benennen, sondern auch das Leben der schon eingewanderten Menschen, vor allem aus Afrika und Nahost radikal einschränken. Das hörte sich beim Vater Jean-Marie Le Pen noch so an, also wolle er alle rücksichtlos und in Eile aus dem Land schmeißen. Marine und ihr geklonter Ziehsohn Jordan sind mäßigender, aber das Ergebnis würde viele Familien, die sich irgendwie aus den genannten Ländern und Regionen in Frankreich angesiedelt haben, schmerzhaft treffen, auch wenn man davon ausgehen kann, dass eine Regierung Bardella, falls sie die Wahl gewinnen würden, erst einmal vor große Herausforderungen gestellt würde, die nicht im Handumdrehen umgesetzt werden können. Doppelpass-Besitzer wären betroffen und alle, die noch unter dem Radar in Frankreich leben und das sind sehr viele. Der RN will etwas regeln, was die eigene Klientel treffen würde, denn viele Immigranten machen die Arbeit, die selbst von den im Prekariat lebenden Franzosen und Französinnen abgelehnt wird. Die Helfer in der Landwirtschaft, die illegalen Arbeiter auf Großbaustellen, die subalterne Zuarbeit in französischen Hotel- und Gaststätten und Straßenreinigung und vieles mehr, was ich in der kurzen Zeit bis zum Schließen der Wahllokale nicht mehr nennen kann.

Ich habe den größten Teil des Textes in Frankreich in dem schönen Haus geschrieben (großbürgerliche Attitüde könnten einige annehmen) und bis Donnerstag nicht bedacht, dass dieser Text gut und gerne auch 10 Seiten lang werden könnte, wenn ich alles bedenken würde, was bei dieser Hauruckwahl, die meines Erachtens mit keiner anderen Staatskrise in Europa zu vergleichen ist.

Wenn man bedenkt, dass von den Ergebnissen der Europawahl bis zum angesetzten Stichwahltag Macron den Franzosen und damit meine ich vor allem die Werbeagenturen, Druckereien, Filmproduktionen, Internetplattformen und Wahlhelfer, die von jetzt auf gleich auf Hochtouren alles organisieren müssen, um in den verbleibenden 4 Wochen, die für alle gleichermaßen ausreichen müssen, eine faire und regelkonforme Wahl zu ermöglichen. In meinem Job, Werbung und Kommunikation, stelle ich mir das bildlich vor, wie die Bosse, die Creative- und Art Direktoren panikartig durch ihre Kreativräume oder Großbüros hetzten, um ihren Kunden, seien es RN, Ensemble, Renaissance oder Nouveau Front Populaire, das Printmaterial oder die Filmproduktion in Windeseile zusammen zu schustern. Ich stelle mir auch die Öffentlichkeitsarbeitzentralen der Parteien vor, in denen die Angestellten PR-Strategien entwickeln mussten, um alle Medien mit den wichtigsten Informationen und programmatische Details der politischen Ausrichtungen jedes Einzelnen zu füttern, um die Wahlchancen der einzelnen Kandidaten oder Parteien maximal zu steigern. In der Schweiz musste ich einmal mit der ganzen Kreativabteilung im Zug der AIDS-Prävention, eine vom Ministerium verlangte neue Strategie entwickeln, die innerhalb einiger Wochen als große Informationsträger an den Litfaßsäulen oder Plakatwänden hingen und ebenso Anzeigenmotive ausdenken, die so schnell wie möglich in Tageszeitungen und politischen Magazinen zu sehen sein mussten.  Das war 1991 und es gab keine digitalen Arbeitsmittel wie Computer, um so eine Herkulesaufgabe schneller als schnell stemmen zu können. Bei einer Wahl sieht das ganz anders aus, weil mit den Generalsekretären und Presseverantwortlichen des engeren Entscheidungsgremiums zunächst eine Strategie entwickelt werden muss, um zur Tat, sprich zur Umsetzung zu schreiten. In den jeweiligen Parteizentralen in Paris muss die Hölle los gewesen sein und schiere Angst hat garantiert in allen Knochen gesteckt. Unter Druck, so etwas Elementares wie eine aufgezwungene Entscheidung seitens einem Staatspräsidenten Macron, den Wählerinnen plausibel zu machen, scheint fast unmöglich zu sein. Ein Drahtseilakt, von dem keiner und keine weiß,  warum er sich, sie sich zwischen einem rechtsextremen Block und einem linken Parteienbündnis entscheiden muss , erscheint mir als schwerer alles, was im Normalfall in einer Parteizentrale mit ihren Werbeagenturen ausgeheckt wird. Um alle Parteien oder Parteienbündnisse gerecht und gleich zu behandeln, hat sich France 2 entschieden, eine Wahlwerbung für alle zu installieren. Zwischen digital erzeugten Trailern, bunt und neutral, konnte jede Partei, ob groß oder klein in einem Maß, dass allen gerecht wurde, ihre Botschaft zur Wahl loswerden. Die großen Parteien, vor allem der RN, die vom Medienmogul und Milliardär Bolloré finanziell unterstützt wird, konnte schnell reagieren und die Truppen sammeln und in den Kampf schicken, aber die kleinen Ecologist-parteien oder kleine Parteien wie den Trotzkisten oder anderen ideologisch konnotierten Gruppen wurde durch die Sammelwerbungsfilme zumindest die Chancen eingeräumt, sich Gehör zu verschaffen. 

Auf dem Marktplatz von Boulogne-sur-Mer, wo wir vorvorletzten Samstag nach unserer Ankunft einkauften, schienen viele Gruppen vertreten zu sein, die Handzettel verteilten, ich habe mich nicht darum gekümmert und mich jedes Mal als Etranger geoutet, um in Ruhe gelassen zu werden. So voll habe ich den Marktplatz und die angrenzenden Lokale noch nie gesehen und sicherlich war überall das Thema Macron, Rassemblement und Linksfront das Thema des Tages.

Gestern sind wir heim gefahren und ich schreibe noch schnell das Notwendigste auf, damit dieser Text Rückschlüsse auch für Deutschland bieten kann.   

Bündnis von zehn Parteien – Le Nouveau Front Populaire (Anlehnung an leon Blum und Front Populaire 1936, Partei PS-Sozialisten, PP-Place Publique -Raffael Glucksmann,  LFI-La France Insoumise – melenchon, E – Ensemble – Macron, PD-Picardie DebouT, PG-Part de Gauche, REV – Révolution écologique pour le vivant, PEPS – Pour une écologie populaire et sociale, GES – Gauche écosocialiste, GDS – Gauche démocratique et sociale

Verbündete

EELV – Les Ecologistes, GS – Generation s, GRS – Gauche républicaine et socialiste, L`E – L‘Engagement, MRC – Mouvement republicain et citoyen, LRDG – Les Radicaux de Gauche, AE – Allons enfants , ND – Nouvelle Donne, UDB – Union démocratique bretonne

577 Wahlkreisen, Olivier Faure Sozialisten, Jordan Bardella – 28 Jahre, Gerard Attal 35 Jahre, France 2, France 5

Manuel Valls und Bernard Cazeneuve, die bereits 2022 NUPES-Gegner waren, das Abkommen. Valls nannte es einen „politischen und moralischen Fehler“ und Cazeneuve nannte es einen Verrat „am Erbe von Blum“

Die neuesten Wahltrends vermeldeten am 28. Juni 2024 – RN – 34%, NFP – 28%, Ensemble-Macronisten 20%, aus einer Umfrage für den Fernsehsender BFMTV et der Zeitung La Tribune. Dimanche publié ce vendredi 28 juin. La formation d‘extrême droite occupe la première place avec 36%, devant le Nouveau Front populaire (27,5%), En troisième place, Ensemble pour la République est stable, avec 20% des intentions de vote. Quant aux Républicains, 9% des sondés indiquent qu‘ils voteront pour le dimanche 30 juin.

Wolfgang Neisser, 30.Juni 2024 um 19:47 Uhr

A la Campagne au bord de la Mer

Regen, Regen, so hatte ich mir die Fahrt nach Frankreichs Atlantikküste nicht vorgestellt, hinter Aachen über Belgien hingen von Lüttich bis Valenciennes dicke Regenwolken, die ergiebig das Land fluteten und hinter Lüttich wurde es immer schlimmer, Starkregen setzte ein und auf der Autobahn verwandelte sich Fahren und Lenken zu einem Nerven zerreißenden Abenteuer, wobei überholende Wagen schon nach wenigen Sekunden in der Regendusche verschwanden. Belgien, das von Jacques Brel besungene pay plat schien zu ersaufen und ich fragte mich, wohin das ganze Wasser nach den monatelangen Dauerregen über Mitteleuropa verschwinden solle, wenn schon die Kühe bis über die Hufgelenke im Wasser stehen mussten und Maulwürfe sicherlich permanent schwimmen und tauchen üben mussten. Anstatt die schnelle Autobahnroute über Brüssel, Dünkirchen, Calais zu wählen, dachte ich, dass es vielleicht schlauer sei die nicht so bekannte Autobahn durchs ehemalige Kohlerevier Lens, Henin-Beaumont und Bully-les-Mines zu wählen, die von den Navigationsgeräten und google maps eher vernachlässigt wird. Wider Erwarten für den einen und eine Überraschung für den anderen kann diese Strecke als relativ verkehrsfrei angesehen werden, aber ob das immer so ist, wage ich zu bezweifeln. Das gewundene Straßenband durch die kegelförmigen Schlackehalden, die kleinen  Vulkanen ähnelten und die alten geklinkerten Bergbausiedlungen unmittelbar neben der Fahrbahn ließen Wehmut aufkommen, denn einst war gerade diese von Schwerstarbeit unter Tage geprägte Region eine der reichsten Industriestandorte Frankreichs. Die Städte Lille, Roubaix oder Lens zeigen immer noch Stadtteile, in denen prachtvolle Jugendstilhäuser zu bewundern sind und die Rathäuser und Innenstädte eine Ahnung aufkommen lassen, wie wohlhabend in dieser Bergbaugegend vor mehr als hundert Jahren bis in die Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Grubenbesitzer und deren leitende Angestellte gewesen sein müssen. 

Wer sich noch an das Ruhrgebiet vor 50 Jahren erinnert, wird wissen, was ich meine. Das ist jetzt eindeutig Le Pen-Land und hier fährt die katzige Chefin des Rassemblement Nationale mit ihrem Posterboy Bardella in einigen Kommunen immer hohe Wahlergebnisse ein. Wer sich besser informieren will, wie es geschehen konnte, dass die vielen klassischen Arbeiterstädte und -orte, in denen einst an jedem 1. Mai die Kumpel mit Stolz ihre roten und bunten Flaggen zeigten, inzwischen in die Krallen der Rechtsradikalen gelangen konnten, sollte das Buch von Didier Eribon „Rückkehr nach Reims“ lesen, um selbst eine Vorstellung davon zu bekommen, wie das „Changement de Travailleurs“ nach rechts geschehen konnte. Wer aber sozialpolitisch eine sehr genaue Antwort auf die politischen Prozesse durch sogenannte demokratische Wahlen finden will, dem/der sei das Buch von Luciano Canfora „Eine kurze Geschichte der Demokratie“ empfohlen, in der das Kapitel Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht genauestens seziert werden. Allerdings geriet dieses Buch nach seinem Erscheinen durch eine Kritik des Sozialphilosophen H.U. Wehler in eigenartige Negativschlagzeilen, was aber meiner Meinung nach, einigen Thesen Canforas keinerlei Wirkung und Evidenz entzogen. 

Aber da es schon schwer genug ist, Mensch und Wähler zu sein, der die demokratischen Regeln ein Mensch/eine Stimme nachvollziehen will oder mehr über die Macht und Ohnmacht innerhalb  der geschichtlichen Entwicklung von Parteien erfahren möchte, sollte sich in diesen Zeiten fragen, ob es nicht ehrlicher sei, gar nicht zu wählen, weil jede abgegebene Stimme in unerträglicher Weise durch Parteien instrumentalisiert werden kann.   

Fünfzig Kilometer nördlich von Bethune, bogen wir von der Autoroute ab und fuhren geradeaus westwärts, um sehr viel gemächlicher über Desvres bis Boulogne-sur-Mer zu gelangen, wo ich den Großeinkauf im Auchan geplant hatte. Wer einmal in Frankreich war und nicht durch die weitläufigen Konsumhallen des Auchan gelaufen ist, weiß nicht, was ein richtig großer Supermarkt ist. Ein Supermarkt, der mindestens ein Fußballfeld misst und über 50 Kassen verfügt, wenn es nicht sogar mehr sein mögen. Supermärkte gibt es in jedem größeren Ort in Frankreich, einem Jahrhunderte gewachsenen Agrarland, in dem der Markt an sich zur Kultur gehört. Inzwischen kaufen die Chefs dieser für Einkaufsorgien konzipierten Läden überall in der Welt, was den französischen Bauern überhaupt nicht gefällt und wenn ein Franzose und zumal ein Agrarier die Schnauze voll hat, geht er auf die Straße, im Fall der Bauern treten sie massenweise auf und mischen hoch auf ihren Treckern sitzend den Verkehr in Paris oder Brüssel  auf, indem sie ihrem Unmut lautstark Luft machen. 1949 begann mit dem Kaufladen Lequerc das Zeitalter der Super-Supermärkte in schmucklosen Industriebauten oder -hallen, in denen fast alles zu kaufen war. Als ich 1974 von Poitiers auf die Ile-d´Oleron radelte, kaufte ich später ein Paar Boulekugeln in der Sportabteilung eines Lequerc. Die Lequercs gehörten ganz oben auf die Liste der Supermärkte, wurden aber von der Bourgoisie als „degeullasse“ bezeichnet. 

Bei dieser Tour waren fast alle, die nach und nach mit Zug und Autos ankamen noch von der Einfachheit des Landlebens beseelt und so kauften wir ziemlich sauren Rouge beim Bauern und Fisch bei einem Fischhändler. In St. Pierre d´Oleron gab es einen Intermarché, aber wenn es nicht unbedingt notwendig war, gingen wir auf die Wochenmärkte und besorgten uns die Einzigartigkeiten für die großartig arrangierte Bouffs mit all den bourgeoisen Lebensmitteln,  die der prinzipiell nicht korrumpierbare Stadtflüchtling so braucht, um seine Freiheit des Seins zu zelebrieren. Aber auch hier gilt, Ausnahmen bestätigen die Regel. Wir tranken sehr viel Pineau des Charentes, weil wir so einen Gaumenverwöhner als süffigen Aperitif bisher nicht kannten und auch nicht wussten, wie diese Labsal zu einem veritablen Vollrausch führen konnte.   

Die Auchans eröffneten meines Erachtens erst in den 60ern des letzten Jahrhundert ihre Konsumtempel und beim ersten Einkauf in einem Auchan 1995 bei Calais, ging meine Tochter abhanden, weil sie und wir dieses unübersichtliche Gelände in und um den Supermarkt völlig unterschätzt hatten. Nach bangen Minuten fingen wir sie auf dem Parkplatz wieder ein. Für mich bedeutet der Auchan das Sinnbild eines sozial aufgestellten Warenhauses, das aber weder aldilike einher kommt noch wie das Kaufhaus des Westens oder das Printemps aussieht. Ein Kaufhaus für jeden mit einem Sortiment, bei dem das französische „Prekariat“ wegen höherer Preise leider zu kurz kommt, die gehen inzwischen in die Aldis und Lidls. Allerdings sah ich einige Kunden, die Scheck an Scheck der Kassierin hinschoben. Schecks der Arbeitslosenversicherung. 

Am Freitag kamen wir rechtzeitig im Centre commerciale an, bevor der große Weekendansturm begann und ich konnte trotz eigenartigen Orientierungsfehlern all das bekommen, was ich mir schon ausgedacht hatte. Fisch, Anneau, Crevetten und Austern, viel Gemüse und Erdbeeren, Kirschen und Käse und natürlich Lammkotelett, weil es das einzige Fleisch ist, das wir Alten, die alle vegetarischen und veganen  Springfluten stoisch überlebt haben, sich noch gönnen, wenn es um die Bewahrung der Schöpfung geht. Nach einer guten Stunde, wahrscheinlich länger, packten wir die Einkaufstaschen zu unserem Gepäck im Kofferraum und auf die Rückbank und fuhren in überschaubaren Umwegen hoch der Küste zu, wo in Equihen Plage „unser Haus“ schon wartete. Ich muss unser Haus sagen, weil wir schon vor mindestens 12 Jahren einmal hier waren, als der Ort noch sehr verschlafen war und der alles aufsaugende Tourismus über die Landstraße noch vorbei rauschte. Im ersten Winter, als wir dort waren, gab es nur einen Kamin und einen größeren Kanonenofen, der ständig neues Futter brauchte, das ich aus einem Schuppen heranschleppe n musste. Wir waren mehrmals im Winter über Weihnachten und Neujahr im Collier Voye, aber irgendwann begannen mich die Winter mit dem Regen und dem Blitzeis zu deprimieren und wir entschieden uns dann für den Süden Frankreichs. Zunächst im Roussillon bei Ceret, dann an der Küste in Argeles und später sogar an der ligurischen Küste zwischen Ventimiglia und San Remo. Dreimal lebten wir im Januar in Marseille, weil wir diese Stadt mit all seinen positiven und negativen Fazetten sehr lieben. 

Einmal war uns das Glück hold, als wir im September mit meiner Tochter und ihrem Verlobten in „unserem“ Haus wohnten und von einem wunderschönen Altweibersommer verwöhnt wurden. Letztes Jahr gönnten wir uns eine Woche nach der strapaziösen London Tour, die uns wirklich fast an „die Klippen des Wahnsinns“ gebracht hätte. 

Nachmittags gegen 15:30 sehen wir das Haus, dieses geduckte Gebäude, von Hecken, wuchtigen Bäumen und kleinen Hainen umgeben. Allein, die erste visuelle Begrüßung, ist immer wunderbar, wenn man im Sommer ankommt. Allein die Anfahrt durch die schon gemähten Felder über den holprigen Landweg ist aufregend, aber wenn man den Weg hinter sich lässt und das Auto zum Stellplatz unter einer sich breit nach oben formenden Linde manövriert, erlebt einen Farbentraum, der mit einer rot gesprenkelten Wiese voller Mohnblüten beginnt. Eine Blütenpracht mit Rosen, Hortensien und anderen blühenden Gewächsen rahmt die Haustür ein und die gegenüberliegende Hecke erhebt sich in ganzer Fülle und beim Betreten fühlen wir uns immer sofort heimisch. Eine große Zypresse steht majestätisch hinterm Haus und die beiden Lindenbäume, deren Alter meinem eigenen entgegenkommen mag schützen vor kaltem Ostwind. Die Fläche des Grundstücks kann durchaus weit über 1000 qm ausmachen und im östlichen Teil stehen einige Hochbeete, die uns gut mit Kräutern versorgen.

Dieses Jahr haben die Besitzer eine neue Toilette und ein neues Bad eingebaut, was sicherlich an der Zeit war, aber auch früher haben wir uns nie über die Einrichtung der Zimmer beschweren können. Es ist ein altes Haus, das Geburtshaus der Besitzerin, und ich schätze, dass diese Wände und Dachziegeln bestimmt hundert Jahre vorbeiziehen haben sehen können. Am einem bestimmten Baustil kann man es nicht festmachen, wie alt es ist, aber im Vergleich zu vielen anderen Häusern in der Gegend des Boulonais, scheint es eher in einer für Bauern typischen Weise gebaut zu sein. Das Haus liegt alleinstehend sehr hoch über den Dünen inmitten von Feldern, Äckern und kleinen Wäldern. Viel einsamer und kontemplativer als hier, geht es fast nicht. Zu Fuß gehen wir 20 Minuten bis zum Meer, weil in direkter Luftlinie kein Weg oder Pfad angelegt wurde, und man einen kleinen Umweg in Kauf nehmen muss. So ein Haus trifft der touristisch Suchende nur selten an, weil die moderne Art, am Meer Häuser zu vermieten, keine traditionellen, alten Häusern im Sortiment haben. Weil ich aber schon seit mehr als fünfzig Jahren an die Gestaden der unterschiedlichen Meere zwischen Nord und Süd fahre und immer nach derartigen Unterkünften Ausschau gehalten habe, gelingt es mir immer wieder, eine Perle der Ruhe zu finden. Irgendwann habe ich sehr gut verstanden, warum Künstler und Dichter oder Menschen, die eine Zivilisation verabscheuten, zu allen Zeiten die Ruhe der Einsamkeit suchten, um dennoch ihren fundamentalen Ansprüchen gerecht zu werden. Kein Komfort, sondern das Notwendige, um essen und trinken, schlafen und arbeiten zu können. Wasser ist wichtig und Schutz vor allem, was gefährlich und schädlich sein kann. Heute brauche ich in einen Supermarkt, einen Bäcker, einen Fischhändler oder einen Bauern, um uns versorgen zu können, aber wir kaufen immer so viel, dass wir für mehrere Tage genug von allem zu haben. Die Stadt ist zwar nahe, aber wir bemerken sie hier nicht, ein Haus inmitten der Natur mit den einzigen Nachbarn, die ich mag, ein paar Schafe auf der Weide hinter dem Haus.

Die meisten alten Häuser zwischen Boulogne und Calais, die unmittelbar am Meer liegen, ähneln in ihren Bauweisen unseren Einfamilienhäusern aus den Fünfziger Jahren und zeugen von keinem traditionellen Erscheinungsbild, sondern sind einfache Wohnhäuser für Menschen, die irgendwo in den Fabriken und Büros der umliegenden Städte arbeiten müssen, weil ihre herkömmlichen Lebensweisen, zu überleben, unwiderrufbar zerstört sind. 

Alte Fischerhäuser gibt es viele, aber die sind zum einem oft sehr klein und stehen dicht an dicht und zum anderen sind sie nicht zu vermieten, wahrscheinlich auch, weil deren Komfort den Ansprüchen der Touristen niemals genügen würden. Der Fischfang ernährte früher viele Menschen in den kleinen Siedlungen mit ihren Naturhäfen am Meer, aber inzwischen fahren nur noch Privatleute mit kleinen und sehr großen Motorbooten aufs Meer, um sich die Zeit zu vertreiben. Es lohnte sich für alt eingesessene Fischerfamilien nicht mehr, hinauszufahren und zu fischen, weil der Fischfang schon vor vielen Jahrzehnten industrialisiert wurde. 

Boulogne sur Mer gehört in Nordfrankreich seit jeher zu den größeren Fischereihäfen, die einen beträchtlichen Anteil für die Versorgung mit Fischen und Krustentieren für die Bevölkerung leisten. Von Boulogne landen viele der immer seltener zu fangenden köstlichen Fische wie Cabillaud, Loup de Mer, Dorade, Grondins oder Merluz in den Pariser Restaurants. Wer ganz frische Fische aus dem Fang der letzten Nacht kaufen will, muss sich früh aufmachen und in den Hafen begeben, wo man an einer Mole einige Fischstände findet, die ein umfangreiches Sortiment aller bekannten und beliebten Fischsorten anbieten und ebenfalls Crevetten, Langousten, Hummer, Muscheln und Austern verkaufen. Weil ich weiß, dass im Hafen von Boulogne jeden Tag die sogenannte Criée, die offizielle Fischversteigerung für Restaurants und kommerzielle Weiterverarbeitung stattfindet, kommen in den Supermärkten wie dem Auchan immer frische Fische in den Verkauf. In Deutschland müssen wir viel Geld auf den Tisch legen, um frisch gefangenen Fisch zu erstehen und auch in größeren Städten wie Köln gibt es nur wenige spezialisierte Läden, die wirklich guten Frischfisch anbieten.  

Zwölf Austern aus den Austernbänken von Marennes, die Belonaustern, liegen auf dem Tisch und mit meinem großen Taschenmesser öffne ich mit einiger Mühe eine nach der anderen und schlürfe sie aus der Schale in meinen Mund, drei bleiben übrig, die nehme ich mir am nächsten Tag vor. Aber wir haben noch eine Leckerei gekauft, die zum Ritual des Ankommens gehört.  In einem kleinen dekorativ gestalteten Karton liegen zwei eclairs, die wir später genüsslich essen werden. Beide so unterschiedlichen Geschmacksnoten bilden ein gourmandises Vergnügen der feinsten Art und gehören immer zu unseren Lieblingsgenüssen, wenn wir ankommen. 

Am Samstag fuhren wir dann nach Boulogne und schlenderten über den Wochenmarkt, wo wir Gemüse und Obst aus der Region und Südfrankreich kauften. Dieser Wochenmarkt im Schatten der Eglise St. Nicolas ist der wöchentliche Treffpunkt aller Bewohner, die unmittelbar beim Bauern kaufen möchten und zudem gibt es kommerzielle Gemüse- oder Fischhändler, Hähnchenbratereien, Metzger, Käsestände und auf der nach unten zeigenden Seite des Platzes reihen sich die kleinen Restaurants oder Brasserien aneinander. Da sind immer alle verfügbaren Plätze besetzt und man muss ein wenig Geduld haben, um einen Tisch zu ergattern, an dem gerade bezahlt wurde, weil diese Gäste weiter einkaufen gehen wollen oder in einem der vielen kleinen Geschäfte, die an der rue de lampe geöffnet haben, all das zu erstehen, was ein Mensch so braucht oder eben nicht. 

Da Macron die französische Politik mit seiner Parlamentsauflösung mit Neuwahlen durcheinandergewirbelt hat, stehen an jeder Ecke die mit bunten Flyern bestückten Stimmenfänger der einzelnen Parteien, die der Meinung sind, den ein oder anderen der Wähler mit vielversprechenden Parolen umzustimmen, zu ködern oder noch unschlüssige Kandidaten zu überzeugen. Schließlich wird Sonntag in einer Woche gewählt und welche Partei dann die 12,5% Hürde geknackt hat, kommt in die Stichwahl am 7. Juli. Dann werden die beiden Parteien, die am meisten Stimmen auf sich vereinigen konnten, um das entscheidende Votum für das Amt des Premierministers rangeln, der aber immer ein Mandatsträger von der Gunst des Staatspräsidenten ist, der in Frankreich seit 1958 nahezu in alter monarchischer Tradition wie bei Louis XIV die Geschicke des Landes leitet. Dieses Jahr wird sich wahrscheinlich eine große Koalition gegen den RN bilden, allein dieses Unterfangen dürfte aber mehr als schwierig sein. Wenn Linke, Liberale und auch Konservative eine Einheitsfront bilden sollen, wird es verbal drunter und drüber gehen und wenn sie den RN überholen sollten, wer wird dann Premier, woher kommen die Minister. Vor allem auf einen gestandenen Innenminister wird es ankommen, denn die Olympiade in einigen Wochen wird eine Herkulesaufgabe für Sicherheitskräfte, Ordnungshüter, Notfallhelfern und allen, die diese Olympiade so reguliert und sicher wie möglich begleiten müssen. Der Ausgang dieser entscheidenden Wahl ist noch sehr weit offen und alle sind gespannt, ob die entdiabolisierte Marine mit ihrem Ziehsohn Jordan, der in meinen Augen ein gezüchteter Kandidat ist, die absolute Mehrheit bekommt. Er, Jordan Bardella, will nur Premier werden, wenn der RN die absolute Mehrheit erreicht, aber auch dann wird es sicherlich sehr spannend werden, denn was will dieser 28jährige Politdarsteller ohne Erfahrung und Regierungskenntnisse als Premier in die Wege leiten? Oder hat Marine schon die Blaupause parat, die er als treu ergebener Zögling von Marines Gnaden Punkt für Punkt abarbeitet oder den noch zu findenden Ministern diktiert. Gerade wir in Deutschland sollten dieses Szenario aufmerksam beobachten.  

Das Wetter entwickelt sich immer mehr zu seinen besten Seiten, zwar ist die Kraft der Sonne mit 20 Grad noch nicht so stark, aber es soll sich von Tag zu Tag weiter verbessern. Sommeranfang und längster Tag, damit überschreiten wir den Rubikon der Jahreszeiten und können hoffen, dass es auch durch die weltweiten klimatischen Veränderungen einen Sommer geben wird, das ist nicht zynisch gemeint, sondern entspricht den Tatsachen. Ohnehin müssen wir jede Wettervariante, denn bislang sind alle Zielvorstellungen staatlicher Umweltmaßnahmen nur minimal erfüllt worden. Alle wissen, dass es entscheidend darum gehen wird, alle Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung zu fördern und mit Gesetzen, Regeln und Verboten möglichst erfüllen zu können, damit die Menschen in 20 Jahren nicht im Meer ersaufen oder in der Sonne gegrillt werden. Meinen bescheidenen Anteil, bessere Informations- und Aufklärungsformen zu etablieren, kann sich jeder im Internet mit dem Titel „WIR ALLE SIND KLIMA“ ansehen und an Hand der Bilder eine Vorstellung davon bekommen, was die Menschheit zu erwarten hätte. 

Als bekennender Feind kalter Jahreszeiten freue ich mich immer, wenn die Sonne scheint und die Farben der Erde zum leuchten bringen. Es geht aber nicht darum, dass die Sonne mit Glutofenhitze das Leben auf unserer Erde zerstört, sondern moderat und im Wechsel mit Regen alles Leben fördert und bewahrt. Das allein ist schon eine schwieriger Balanceakt.  

Nach so vielen Monaten Regen, freut sich wahrscheinlich jeder Mitteleuropäer auf den Sommer, aber keiner möchte wie die Griechen bei über 40 Grad in der Sonne brutzeln oder wie 1300 Mekkapilger in der unmenschlichen Hitze den Geist aufgeben. Die Inder hat es aktuell besonders schlimm erwischt und keiner kann vorhersagen, ob es im August auch bei uns in sengender Sonne nicht mehr auszuhalten ist. 

Der erste Fisch, den ich eigenhändig filetiert habe, gelang nicht ganz perfekt, aber nach dem Entfernen der letzten Gräten durch eine spezielle Pinzette, lagen nach dem Braten wirklich passable Filets grätenlos auf den Tellern. Für diese Präparation habe ich ein spezielles Fischmesser mit einer dünnen, gebogenen Klinge gekauft und eine passende breitgreifenden Pinzette dazu bestellt. Wer auch an dieser Art der Fischzubereitung vor dem eigentlichen Koch- oder Bratvorgang interessiert ist, sollte wissen, dass Messer und Pinzette nicht billig sind. 

Wer kennt den Käse, nennt die Namen; Frankreich rühmt sich zurecht seiner extraorbitanten Käsevielfalt, aber aufgepasst, es ist Käse, Käse einfach so zu kaufen, ohne sich ein wenig schlau gemacht zu haben, geht daneben. Alle guten und schmackhaften Käsesorten aus den unterschiedlichen Departements und kleinen Regionen haben spezifische Namen und Bezeichnungen und ein Camembert ist nur dann ein echter Camembert, wenn er aus dem gleichnamigen Ort stammt und mit AOP (Appelation d´Originé Protegé) gekennzeichnet ist wie „a la louche“ (handgeschöpft) sein sollte, der natürlich aus Rohmilch „lait cru“ geschaffen wurde. Der zu zahlende Preis zeigt dann die Wirklichkeit für den erlesenen Geschmack. Das kostet in einem Käsegeschäft bestimmt fünf bis sieben Euro. In Frankreich sind derartige besonderen Camemberts nicht ganz so teuer. Das Gleiche gilt auch für alle anderen Käsekostbarkeiten wie beispielsweise diese besonderen Sorten: Crottin de Berry, Brillat-Savarin, Franche-Comté, Reblochon oder Pont-l’Évêque. Es würde zu weit führen, alle Käsesorten zu erklären, aber ich kann versichern, dass diese Auswahl äußerst delicieux ist. Wer sich dafür interessiert, findet dank Internet ausreichende Informationen, was aber nicht bedeutet, dass man sich unnötig in Unkosten stürzt, wenn man nicht weiß, wie der Gaumen und die Zunge den jeweiligen Käse beurteilt. 

Am Sonntag bin ich erstmals zum Strand gelaufen und auch wenn meine Beine immer noch über jedes Normalmaß hinaus von der Stenose schikaniert werden, erreichte ich den Strand bei Flut ohne Schaden. Nur ein Fehltritt oder ein Stein, auf den ich zufällig trete, kann meine Mobilität für den Tag erheblich einschränken. Froh am Meer zu sein, wollte ich mich wie immer reflexartig in die Wellen stürzen, aber die Vernunft sagte mir, dass ich die Temperatur des Wassers erst testen sollte und ging mit hochgekrempelten Hosenbeinen bis zu den ersten, etwas höher brechenden Wellen. Ich fand das Wasser sehr verlockend und überlegte hin und her, ob ich es wagen sollte. Dabei dachte ich nicht per se an die Kälte des Wassers, sondern an meine Beweglichkeit, denn Wellen sind selbst klein schon kräftig genug, um einen umschmeißen zu können. Ich ging zurück  entkleidete mich mit Evas Hilfe mühsam und als ich die Badehose endlich angezogen hatte, ging ich gemächlichen Schrittes zum Wasser.  Ich platschte so weit hinein, bis die Wellen die Badehose nässten und ließ mich dann fallen. Ich merkte gleich , dass es nicht sehr schlau sein würde, sich länger mit den sehr kalten  Wellen anzufreunden. Entsprechend schnell, war ich wieder draußen, aber allein die Berührung durch das Meerwasser und der Geruch des Meeres entschädigte mich vollkommen. Für mich war das wie eine „Wiedertaufe“ ohne irgendeine dubiose Ideologie, weil ich seit einem Jahr nicht am Meer war und mich nicht im Meer herumgetummelt habe. Nach der unseligen Bahnfahrt nach Beziers und den darauf folgenden Monaten mit großen Schmerzen und eigentlich unnützen Spritzen, mit MRT´s, CT´s und normalen Röntgenbildern, nach Mobilitätsversagen und sich immer wiederholenden Gehübungen und nach dem Kampf um diese Reha, die prinzipiell keine Verschwendung an Zeit war, aber trotzdem wenig gebracht hat. Die Physioabteilung der Klinik in Bad Wünnenberg, ein kleines Kaff im Nirwanaland Ostwestfalen, das kaum jemand kennt, war wirklich bemüht und durch die ausgezeichneten Therapeuten sicherlich ein Gewinn, aber allen wurde klar, dass man dieser Spinalkanalstenose kaum mit konventionellen oder konservativen Methoden begegnen kann. Ich habe aber alles durchgezogen und war besonders an den Kraftgeräten sehr bemüht, auch für mich kaum nachvollziehbare Gleichgewichts- und Koordinationsübungen brachten neue Erkenntnisse. Ich bin gelaufen, was ich konnte, einmal über neun Kilometer durch den Wald, aber nachher habe ich meine Knochen umso mehr gespürt. Über 50 Therapeuten und -innen arbeiten in der Klinik, zahlreiche Hilfskräfte und ein Geschwader von Krankenpflegerinnen, das kann sich sehen lassen, ändert aber nichts daran, dass diese Klinik orthopädisch und neurologisch nicht viel ausrichten kann. Schlaganfallpatienten, die den Großteil der Rehabilitationssuchenden ausmachten, können sicherlich nach drei – vier Wochen Erfolge spüren, aber der Ischiasnerv wehrt sich stur und uneinsichtig gegen alle Anwendungen, die dessen Macht über den Körper vom Rumpf in die Beine brechen können. Das war enttäuschend. Ich muss mich wieder in die Hände der Neurochirurgen begeben, sobald wie möglich, wenn es deren Terminkalender zulässt. 

Am Sonntag Abend haben wir Cote d`Agneau provencale, petits patates en beurre und haricots verts auf den Tisch gebracht und saßen draußen in der Abendsonne, die um acht Uhr noch so viel Kraft hatte, dass nur ein Sonnenschirm einen Sonnenbrand verhindern konnte. Das Fußballspiel habe ich gesehen, aber nicht genießen können, weil ich das eigentümliche Herumstolpern der deutschen Spieler kaum ertragen konnte, während die Nati Suisse soweit es möglich war, konstruktiven Fußball spielten. Die Gemengelage schien aber kaum zu entwirren sein, auch weil ich den Verdacht hatte, dass die Nationalmannschaft des Herrn Nagelsmann schon reichlich vernagelt auftrat und alle Vorschusslorbeeren Lüge strafte. Diese zwanghaften Versuche in planlosen Attacken irgendwie ein Tor zu schießen zu können, war für mich nicht nur unsinnig, sondern irgendwie typisch deutsch. Diese hochgelobten Dribbler scheitern immer an ihrer Hybris, sich wie Slalomläufer durch die gegnerische Abwehr zu schlängeln und dann in der richtigen Millisekunde das Bein zum Schuss anzusetzen und ihren Angriff erfolgreich abzuschließen. Aber immer ist ein Bein irgendeines Verteidigers noch schneller und der Ball fliegt ins Spielfeld zurück oder der Ball hat sich in eine andere Richtung abgeseilt. Xhaka leitete mit gutem organisatorischen Überblick die Schweizer Spieler in ihren Spielaktionen und war erfolgreich. Alle Spieler der schweizerischen Nationalmannschaft wurden ja nicht aus irgendwelchen Dorfmannschaften rekrutiert, sondern spielen in allen bedeutenden Ligen Europas. 

Mich interessieren die Bleus mehr, weil ich schon seit 1998 für diese Mannschaft schwärme. Ich sage nur Zinedine Zidane, Lilian Thuram und Thierry Henry. Wir waren im Luberon und alle fieberten für Frankreich, beim Endspiel bin ich rausgegangen und habe auf dem Hof vor dem Haus Boule gespielt, ich mit mir und denen im Fernsehen, da konnten ich und die im TV ja nur gewinnen, oder? Als das Spiel zu Ende war, machte Marius Champagner auf und auch mit den eingeladenen Männer aus Marseille, die richtige Malocher im Hafen sind, wurde der Sieg der Bleu Blanc Beurre über die favorisierten Brasilianer gebührend gefeiert. Champagner floss und nach Mitternacht waren noch überall Gesänge zu hören. Wenn man bedenkt, dass der Ort in dem schmalen Canyon an der Falaise Madeleine vielleicht so viele Einwohner hatte in eine größeres Restaurant passen, hallten die Stimmen der vom Glück überwältigten Franzosen bis hoch zum Col de Bonnet oder so. Ob Trainer Didier Deschamps mit Mbappe, Dembelé, Kanté, Griezman, Giroud und den anderen bis ins Endspiel kommen wird, ist möglich und hängt von mehr Zufällen ab als manch einem Zeit seines Lebens widerfährt. Wenn sie ins Endspiel wollen, müssen sie bei jedem weiteren Spiel mehr als einen Zahn zulegen. Aber es ist ihnen zu zutrauen. 

Es wird jetzt wirklich von tag zu Tag wärmer und in Sonne auf dem Marktplatz von Outreau begann ich schon zu schwitzen. Meckern wäre idiotisch, schließlich haben wir alle diesen nie aufhörenden Winter gehasst und den Sommer herbeigeredet und jetzt ist er da und wir müssen uns freuen und den Schatten suchen, wenn die Birne zu glühen beginnt.   

Wolfgang Neisser

25. Juni 2024 bei Equihen Plage